13. März 2016

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„Ich wusste, dass du das fragst und habe dir eine Probe mitgebracht.“ Sie steht auf und nimmt ein Glastellerchen vom Tablett, auf dem eine goldgelbe, geleeartige Masse ist. Dazu bekomme ich ein Löffelchen. „Sag mir vier Zutaten.“
Ich teste. Das ist einfach. „Mango. Chili. Apfel. Zimt. Curry.“ Ich nehme noch ein Löffelchen voll und schließe konzentriert die Augen. „Essig? Nein, fruchtiger. Zitrone? Limone. Kardamom, vielleicht Nelken. Und ganz am Rand noch … hm … wahrscheinlich Portwein.“
„Oh weia, da muss ich erst Xavier fragen, ob die alle richtig sind. Ich habe nur Mango, Chili, Apfel und Curry gewusst.“
„Ich bin kein Chutney-Freund, aber das ist sehr gut.“
Sie kichert. „Immerhin sagst du nicht Gewürzmarmelade.“
„Wieso, wer sagt denn so was?“
„Unser werter Alleskönner-Bassist. Gestern Abend, als er sich hier mit Toni und Felix getroffen hat. Xavier war noch da und hat uns alle probieren lassen. Wir stehen hier so rum und testen und finden es gut und da sagt er: Gewürzmarmelade.“
Jetzt muss ich lachen. „Glaubst du wirklich, dass er alles kann?“
„Nein“, lacht sie mit, „aber er tut so.“
Das Telefon klingelt und ruft sie zurück an die Arbeit.
Ich nehme mir Mineralwasser und lese, was auf dem Etikett der Flasche steht. Die Hälfte davon kann ich nicht lesen, denn es sind arabische Schriftzeichen. Die Chancen stehen gut, dass es aus der Wüste kommt. Das ist verrückt.(251)
Dann trinke ich den Kaffee und kurz danach kommt Toni durch die private Tür herein. Er ist älter als ich, schlank, hat kurze dunkle Haare und trägt eine Brille.
„Jeremy, hast du gut hergefunden? Wie schön, dass es so schnell gelungen ist.“
„Danke für die Einladung.“
„Hat Merle dir schon was gezeigt oder gab es nur Kaffee für dich?“ Er sieht das Tablett und schmunzelt, „Ah, Xaviers neueste Kreation hast du auch schon probiert. Na immerhin. Komm, ich zeig dir meine Arbeit.“ Er öffnet die Tür, lässt mich vorgehen und da fällt es mir auf. Er hat keine linke Hand. Der Unterarm endet knapp nach dem Ellbogen. Puh. Wie ist denn das passiert? Wir gehen durch einen Flur, von dem links und rechts je zwei Türen abzweigen. Geradeaus landen wir in der Küche.
„Xavier?“, ruft Toni, und zu mir sagt er: „Er war eben noch hier.“
Die Schwingtür am anderen Ende des Raumes geht auf und ein massiger Schwarzer mit rosa Teig an den Händen kommt herein. Seine weiße Kleidung bildet einen beeindruckenden Kontrast zu seiner Hautfarbe.
„Xavier, mein Lieblingskoch, und Jeremy, Merles Lieblingskoch“, stellt er uns vor.
Wir nicken uns zu, denn er hat ja keine Hand frei. „Merles Lieblingskoch! In meiner Küche!“, lacht er und mustert mich. Seine Stimme passt nicht recht zu so einem großen Kerl; sie ist ganz sanft. „Gut, dass wir keine Hunde sind. Sonst müssten wir uns jetzt böse anknurren, weil du in mein Revier eingedrungen bist.“
„Wartet damit bis nachher“, mischt Toni sich ein. „Erst will ich dir noch alles zeigen.“
Wir verlassen die Küche durch eine weitere Tür und stehen im Lager. „Hier sind die Kühlkammern“, Toni weist auf drei geschlossene Isoliertüren, „und da lagern getrocknete Waren und Konserven, halt das ganze Zeug, das so täglich rein und raus geht. Hat Merle dir die Gewichtungen meines Geschäfts erzählt?“
„Gewichtungen? Nein, hat sie nicht.“

Fußnoten 251 - 300

251 Das ist Globalisierung.
252 ich will nicht sagen, dass alle finnischen Holzfäller schnarchen, sondern dass sie, wenn sie Bäume fällen, Sägen verwenden und das klingt genauso. Man muss ja heutzutage ein bisschen aufpassen, welche Klischees man sich gegenüber Ausländern erlaubt.
253 Manche Mahlzeiten, hat er mir erklärt, dürfen kein Gemüse enthalten. Ihr Fleischanteil ist umso höher. Weil er begeistert auch alle Mahlzeiten verzehrt, deren Mischverhältnis genau andersrum ist, unterwerfe ich mich dieser Regel. Nur weil man einem Löwen Salat gibt, wird er kein Pflanzenfresser.
254 nicht, dass es im übrigen Geschäft laut oder hektisch wäre
255 zur Feier des Tages nehme ich heute den zweiten Schlips mit, also nicht den grünen. Er hat eine Farbe wie roter Flieder; Mommi hat welchen im Garten und ich liebe seinen Duft.
256 Hier sieht man: Es gibt nichts Neues in der Welt. Sogar die Geschichte wiederholt sich irgendwann.
257 wir Spaßbremsen
258 Neulich hat er Merle erklärt, er habe im Laufe des Lebens drei Schriften zu lesen gelernt – kyrillisch, lateinisch und meine. Ha, ha, ha!
259 der einzige Vorteil ist: kein Auto kann geklaut oder beschädigt werden.
260 stimmt, bei uns heißt die Stadt „Keulen“, aber Miloš hat sie als „Köln“ kennen gelernt und sagt nicht Keulen. Man muss seine Beispiele so machen, dass der andere sie versteht.
261 Miloš hat mich letzte Woche abgefragt und er ist fast ausgerastet, als ich ihm präsentierte, dass ich Bosnien und Österreich für Nachbarländer halte. Aber man muss es mal so sehen: Für mich ist Bosnien gleichbedeutend mit Jugoslawien. Und das hatte tatsächlich eine gemeinsame Grenze mit Österreich. Ich kann also eigentlich gar nichts dafür.
262 In der englischen Sprache habe ich mehr Praxis. Weil ich mich aber in Peckovar mit Sloba unterhalten können will, ohne ständig in den unendlichen Weiten meiner Hirnwindungen nach Vokabeln zu suchen, nutze ich die Unterhaltung als Aufwärmtraining.
263 hoffentlich büße ich damit nicht meine Orientierungsfähigkeiten ein, die ich ja bisher als Ausgleich hatte, weil ich nicht mit Navigationsgeräten und Autos umgehen konnte. So ein Navi zu bedienen ist keine große Kunst, wenn man lesen kann.
264 Die Grenze, die Österreich nicht gemeinsam mit Bosnien, sondern mit Slowenien hat, ist nur fünfzig Kilometer entfernt und weitere siebzig Kilometer später ist man in Kroatien. Das geht jetzt ganz schnell. Wir klingen nicht nur nah, wir sind es.
265 Das wird der Grund sein, warum der Bosnier neben mir auch oft so verschlossen ist.
266 Die beiden werden nicht zur Feier erscheinen, weil sie seit einem Jahr durch Amerika reisen. Sie sind schon immer fast wie Zwillinge gewesen, unzertrennbar. Dodo ist auch nur zehn Monate älter als ihre Schwester.
267 wie soll man Ђероминко auch anders aussprechen?
268 Bogi, au weia! Sie hat einen wirklich schwierigen Namen, das denkt man gar nicht. Bogdanka ist vielleicht ungewohnt, aber na und? Aber sie will ein weiches, stimmhaftes G haben. An genau dieser Stelle offenbart sich mein Sprachfehler – peinlich, ein Sprachlehrer mit Sprachfehler! In meinem Mund gibt es nämlich kein weiches G, ich mogele mich immer mit D, B oder H daran vorbei, je nach dem, was gerade am besten passt. Da hilft keine Eselsbrücke, „denk einfach an Boogie-Woogie“ und kein Üben. Dragan hat ja dasselbe Problem, besser gesagt habe ich es.
269 letzte Worte! Das klingt ja, als hätte er den letzten Willen formuliert!
270 Sloba hat es mir übersetzt
271 Wahrscheinlich bin ich deswegen aufgewacht.
272 so sind wir halt – er heißt „süß, lieblich“ und ich bin blond.
273 haha, tatsächlich!
274 So was hab ich in meinem ganzen Leben noch keiner Frau versprochen.
275 mit ihren Händen kann sie ja nichts machen, die sind nach wie vor in meinem Griff
276 theologisch … ach, egal!
277 ja, sie heißt tatsächlich Slobodanka Jovovič. Ein Name, zu dessen Musik man singen und tanzen kann. Der schönste Name der Welt.
278 nachdem ich ihm vorgeschlagen habe, an einem Marathon oder Triathlon teilzunehmen oder was es da so gibt, aber er will kein Sportevent, sondern seine Ruhe
279 warte nur, Liebste, wenn du Nederlands lernst …!
280 demnach ist es nicht die stille Reserve
281 leider sind wir nur theoretisch das zweite yugo-niederländische Paar von Zuyderkerk, weil sie ja nicht hier ist.
282 über Miloš’ Vergesslichkeit erlaube ich mir kein Urteil
283 Ihr Zustand lautet inzwischen ganz offiziell „schwanger“
284 die Backwaren, die nicht verkauft wurden, stehen erst den Mitarbeitern zum halben Preis zur Wahl und was dann noch übrig ist, holt am nächsten Tag eine Obdachlosenhilfe ab.
285 absehbar
286 „Erst Basis, dann Sex“ ist die schwammigste Vereinbarung, die es je zwischen zwei Verliebten gegeben hat. Wer legt fest, wann genug Basis vorhanden ist? Wie viel Basis brauchen wir, was ergibt sich mit der Zeit und was ist total unwichtig? Und was haben wir uns für die Zukunft ausgedacht, auch wenn sie sich nicht mit der Zukunft befassen will, weil das ja mit Erwachsensein zu tun hat? Leider weiß ich noch nicht genau, ob ich standhaft sein oder mich ihren Lockungen hingeben will. Solange ich diese Frage nicht geklärt habe, kann ich den Verführer nicht in seine Schranken verweisen.
287 neuerdings bin ich ja überzeugter Großfamilienfreund
288 wir sind eine Zeitlang in einer Klasse gewesen.
289 andersrum hätte das aber auch komisch ausgesehen!
290 zumindest in der Kinderversion
291 haha, schon wieder wärme ich eine Frau und er fasst das falsch auf. Er sollte das mal mit Theodorus durcharbeiten.
292 irgendwann hat er sich eine Gesamtausgabe gekauft. Das NT, das ich ihm letzten Sommer geschenkt habe, hat er aber auch noch.
293 Sie spricht den Namen wie einen Doppelnamen, fast ohne Pause dazwischen. So wie z.B. Janwillem. Ich bin bisher noch nicht dahinter gekommen, warum sie das tut. Er ist der einzige David ihres Bekanntenkreises, sodass es nicht um Alleinstellungsmerkmale gehen kann.
294 weshalb ich es auch trotz Slobas Besuch nicht verschieben werde
295 Schließlich liegt Deutschland im Osten und hier geht es um osteuropäische Kultur.
296 großartig. Die rote Furie und die rote Birne. Welch ein schönes Paar!
297 das Doppelpedal lag schon ein paar Wochen im Proberaum herum, ich habe es aber nie zusammen mit der Band genutzt
298 streng genommen tut die Band auch, was die Frontfrau will
299 was ist das hier? Atemtherapie nach Kusturica?
300 apropos Rock’n’roll: meine Oberarme werden von je zwei Blutergüssen verziert, einer vorne, einer hinten. Es tut ziemlich weh, aber ich weiß noch nicht, ob ich ihm das mitteile. Einerseits: was soll er dran machen? Andererseits werde ich bei fast jeder Bewegung dran erinnert, dass sie da sind.

458

„Levian. Aber der muss sich auch keinen neuen Anzug kaufen.“
„Anzug!“, fällt mir ein, „Was wirst du anziehen? Du kannst Levian jetzt nicht fragen.“
„Ich bekomme vor Ort Kleidung.“
„Tja, dann ist ja alles geklärt. Schönen Abend.“
„Dir auch.“

Ich habe gestern Abend fast zweieinhalb Stunden mit der Frage zugebracht, was ich Toni mitbringen könnte. Erst ist mir nichts eingefallen, dann hatte ich die benötigten Zutaten nicht im Haus und schließlich bin ich zum Entschluss gekommen, dass ich gar nichts mitbringen werde. Muss ich denn einem Koch beweisen, dass ich kochen kann? Lieber nicht. Rezepte können wir später auch noch austauschen, falls sich die Gelegenheit bietet.
Wann Miloš nach Hause gekommen ist, habe ich nicht gehört, also wird es sehr spät gewesen sein. Noch immer wundere ich mich über den fast sittenwidrig hohen Stundenlohn. Er hat bestimmt gehandelt und seinen Preis nach oben getrieben. Tonis Kollege kann nicht immer so viel Geld ausgeben, das hält keine Firma aus. Vor allem würde er dann keine Absagen kassieren bei einem spontanen Termin.
Ich schleiche durchs Haus und mache im Bad keinen Mucks, um ihn nicht zu wecken.

Nach der Schule fahre ich zum Bahnhof und nehme den Zug nach Alkmaar. Dort angekommen steige ich um in einen Bus, fahre drei Stationen und stehe schon fast vor „Tonis delicatessenwinkel“. Das Geschäft befindet sich im unteren Teil des Hauses, aber durch den Eingang kommt man offenbar nur zu Tonis privater Wohnung. Ein Schild mit dickem rotem Pfeil weist die Kunden an, links ums Haus in den Hinterhof zu gehen. Dort sind drei Garagen, quer über die Tore ist der Schriftzug des Geschäfts aufgesprüht. Das kann ich erkennen, obwohl das mittlere Tor offen steht.
Ich finde ein weiteres Schild, ebenfalls mit rotem Pfeil, das mich zum Büro lenkt. Ich folge ihm und öffne eine Tür. Das Büro enthält zwei Arbeitsplätze, Computer, allerhand Bürogeräte, dazu eine cremefarbene Ledercouch und ein Tischchen mit zwei kleinen Mineralwasserflaschen, zwei Gläsern und einer Pflanzschale drauf. Und Merle, die sehr vertieft arbeitet oder etwas anderes am Computer macht, davon habe ich ja keine Ahnung. Ich klopfe.
„Jeremy! Was machst du denn hier?“, fragt sie überrascht und steht auf.
Wir umarmen uns zur Begrüßung.
„Dein Chef hat mich gestern höchst offiziell zu einem Besuch eingeladen. Da bin ich.“
Sie nimmt ein Telefon vom Tisch und drückt eine Nummer. „Toni, dein Besuch ist da.“ Vermutlich fragt er, welcher Besuch, denn Merle sagt als nächstes: „Jeremy.“ Sie hört noch mal zu, sagt: „Tu ich.“ und legt auf. Mir sagt sie: „Er ist oben mit der Kleinen zugange. Die ist heute krank und Mama hat einen Geschäftstermin, also muss er sich kümmern. Er kommt in ein paar Minuten runter.“
„Wie klein ist die Kleine denn?“
„Neun, also nicht mehr so betreuungsintensiv. Die Große ist vierzehn. Wenn du lang genug bleibst, triffst du sie gleich, wenn sie aus der Schule kommt. Kaffee?“, fragt sie.
„Gerne.“ Ich lasse mich auf der Couch nieder. Es duftet interessant in diesem Raum. Ein bisschen nach Büro, nach Drucker und Papier, und sehr viel nach Gewürzen, exotischem Obst und anderen Dingen, die ich nicht benennen kann.
Merle ist durch eine andere Tür verschwunden, auf der „privat“ steht, und von dort kommen auch die Gerüche. Sehr wahrscheinlich, dass da die Küche ist.
Jetzt kehrt sie mit einem Tablett zurück, das sie auf einem der beiden Schreibtische abstellt. Sie bringt zwei Tassen Kaffee zum Tischchen, gibt mir die eine und setzt sich zu mir.
Ich schnuppere an der Tasse. „Mh, das ist aber … mmh! Lecker.“ Zum Trinken ist er noch zu heiß – ich trinke den Kaffee immer etwas abgekühlt.(250) Für die Zwischenzeit will ich wissen: „Was wird da gekocht?“

457

Barenkarspel war früher ein Nest zwischen Zuyderkerk und Hoorn. Durch Neubaugebiete, großflächigen Obst-, Gemüse- und Blumenanbau sowie die Ansiedlung von Industrie ist es inzwischen fast an Zuyderkerk herangewachsen. Man braucht etwa zehn Minuten mit dem Rad von uns zuhause bis ins Zentrum, wo die Einkaufspassage steht und darin Stevens Brotladen. In der Nachbarschaft befinden sich ein Supermarkt und diverse andere kleinere Geschäfte wie ein Frisörsalon, eine Apotheke und so weiter. Im oberen Stockwerk sind Arztpraxen und ein Fitnessstudio untergebracht.
Ich stelle mein Rad auf dem Kundenparkplatz ab und gehe hinein. Seit vor ein paar Jahren renoviert wurde, war ich nicht mehr hier. Ich erkenne nichts wieder. Selbst die Fußböden wurden geändert. Immerhin kann ich der Nase folgen, immer dem frischen Kaffeeduft nach. Der Brotladen hat ja auch ein kleines Stehcafé.
Zwei Kunden sind vor mir dran, eine blonde Frau bedient. Das ist nicht Lale, die türkische Tulpe, soviel steht fest. Jetzt tritt Miloš mit einem Blech ofenheißer Brötchen aus dem hinteren Teil des Ladens. Ich weiß nicht, wie er das macht, es sieht aus, als hätte er sich das Blech auf die Schulter gelegt. Das ist natürlich nicht so, denn da hat er noch nie Brandblasen gehabt.(249) Er sagt ein kurzes Wort zu seiner Kollegin, sie geht einen Schritt beiseite und er kippt die Brötchen in einen großen viereckigen Korb unterhalb des Regals, in dem die Brote liegen. Das sieht alles schon ziemlich eingespielt aus.
Jetzt hat er mich bemerkt, bringt das Blech weg und kommt um die Theke herum. „Hoi“, begrüßt er mich mit Handschlag, denn wir haben uns heute noch nicht gesehen. Er ist früher aufgestanden als ich. „Willst du Brot kaufen?“
„Nein, da kann ich bestimmt abwarten, bis du welches mit nach Hause bringst. Du müsstest mal Toni anrufen. Ein Freund von ihm, der auch ein Catering hat, sucht für heute Abend noch einen Kellner. Irgendwie ist das alles ganz wichtig und teuer.“
„Heute Abend bin ich mit Levian zur Bibelstunde verabredet.“
„Ruf ihn trotzdem an, damit er Bescheid weiß.“ Toni könnte ja selber hingehen, fällt mir dabei ein. Aber wahrscheinlich hat er auch keine Zeit.
„Mache ich. Und du bist nur deswegen hergekommen?“
„Als dein persönlicher Sekretär ist das meine oberste Pflicht, oder? Ach ja, Toni hat mich für morgen eingeladen. Da musst du dir nach Feierabend selbst was zu Essen machen.“
„Ich werde nicht verhungern“, lacht er. Im Laden piepst etwas, „ich muss“, und klopft mir auf die Schulter. Dann schlängelt er sich an Kaffeeautomat und Kollegin vorbei zum Ofen.

Ich bin zuhause kaum an der Tür, als ich höre, wie drinnen das Telefon bimmelt. Bin ich in eine Zeitschleife geraten? Ich hechte zum Apparat und melde mich: „Ja?“
„Miloš hier. Ich werde nicht zur Bibelstunde gehen, sondern nach Alkmaar fahren und Tonis Kollegen bei seinem Event helfen. Das soll so ungefähr bis Mitternacht dauern.“
„Aha. Wie hat er dich überredet?“
„Tja“, macht er und ich höre seine gute Laune, „ich weiß nicht, wie ich das mit meinem Gewissen vereinbaren kann, dass ich die Bibelstunde für so ein profanes Geschäft auslasse … ich bin leider käuflich.“
„Wie viel?“
„Achtzehn.“
„Das klingt nach einem reichen Abend, Toni zahlt ja sonst nur zwölf.“
„Nein, das hast du falsch verstanden. Er zahlt nicht achtzehn, sondern achtzehn mehr.“
„Dreißig Euro pro Stunde?!“ Ich verfalle fast in Schnappatmung. „Musst du unmoralische Dinge tun? Was ist das für ein Event? Und warum ist es Tonis Kumpel so extrem wichtig, seinen Job da zu machen? Krass. Erzähl mir alles, hörst du?“
„Ich wusste, dass du mich verstehen würdest“, lacht er.
„Warum, wer versteht dich nicht?“

456

„Meist freundlich, manchmal ziemlich laut?“, tippt Miloš grinsend.
„Haargenau das. Kracht es noch zwischen euch, auch wenn ihr jetzt Brüder seid?“
„Davon kannst du ausgehen.“
„Ein Glück“, seufzt sie wieder. „Das klingt vielleicht kitschig, aber ich glaub, dass das ein wesentlicher Faktor dieser Band ist. Lisanne und ich sind letztlich austauschbar. Das sieht man jetzt. Wir kommen ohne sie zurecht. Auf der Bühne haben wir den Dreh noch nicht raus, aber Lieder entwickeln können wir ohne Lisanne. Wir könnten auch jemand anderes dazu holen. Aber eure Einheit – das ist die Basis.“
„Meinst du nicht, dass du ein bisschen dramatisierst?“, gehe ich spöttisch dazwischen.
„Nein, meine ich nicht. Ohne euch beide funktioniert es nicht. Es ist kein Zufall, dass ihr zusammen auch das Rhythmuskorsett bildet. Es gibt viele Bands, die von Brüdern gegründet worden sind. Wenn die ein gutes Team waren, hat fast nur ein Todesfall die Band auseinander bringen können. Wenn die sich nicht verstanden haben, hat es zwar geniale Momente und eine Menge Erfolg gegeben, aber nie Kontinuität.“
„Oasis“, sagt das Musiklexikon.
„Genau. Und als Gegenbeispiel?“
„Bee-Gees.“
„Hervorragend“, ächze ich, „Meine Band hat Gemeinsamkeiten mit den Bee-Gees.“


hunderteinundvierzigstes Kapitel

Donnerstags bin ich nach der Arbeit gerade mit meinen Einkäufen zur Terrassentür herein gekommen, als das Telefon klingelt. Habe ich schon mal erwähnt, dass es mich nervt und ich zu jeder ungefähr dritten Abrechnung erwäge, den Vertrag zu kündigen? Leider wird der Mitbewohner dagegen sein. Eilig lade ich die Einkäufe ab und melde mich mit dem üblichen „Ja?“
„Hallo, hier ist Toni. Ist Miloš zu sprechen?“
„Nein, der arbeitet noch. Bist du Toni vom Delicatessenwinkel?“, frage ich.
„Ja, genau der. Und du bist Jeremy, der Schlagzeuger aus Merles Band, der angeblich so gut kochen kann. Merle sagt, du wolltest mich immer schon mal besuchen, warum hast du das nicht längst getan?“
„Äh … es war keine Zeit.“
„Was machst du denn morgen Nachmittag?“
„Noch nichts.“
„Wann hast du Feierabend?“
„Um halb drei.“
„Gut, dann komm mich doch besuchen.“
„Gerne“, mache ich überrumpelt. „Aber hast du nur deswegen angerufen?“
„Nein, ich wollte Miloš sprechen, aber du sagtest ja schon, dass er nicht zuhause ist.“
„Ach ja, stimmt. Kann ich ihm was ausrichten?“
„Er geht leider nicht an sein Handy dran, aber es ist wichtig. Ein Kollege von mir hat auch einen Partyservice und braucht für heute noch einen Kellner. Der, den er eingeplant hatte, ist krank. Er hat schon alle seine Aushilfen abgeklappert, aber bisher nur Absagen bekommen. Da hat er sich an mich gewandt. Leider habe ich bisher immer versäumt, Miloš zu fragen, ob ich seine Telefonnummer weitergeben darf. Also hänge ich selber am Telefon.“
„Wann muss er wo sein? Muss er bestimmte Kleidung mitbringen? Ach, weißt du was“, fällt mir ein, „ich fahr rüber nach Barenkarspel und sag ihm, dass er dich anrufen soll. Dann könnt ihr alles übrige klären.“
„Danke, Jeremy, das hilft weiter. Und wir sehen uns morgen?“, erinnert er.
„Ja. Ich könnte direkt nach der Schule kommen.“
„Du gehst noch zur Schule?“, lacht er überrascht.
„Ja“, lache ich mit, „als Lehrer.“

455

Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass sie das alles sagt, um ihn aus der Reserve zu locken. Um das Gegenteil zu erreichen. Sie will nämlich doch damit konfrontiert werden. Sonst hätte sie ja gar nicht erst davon angefangen. Ist sie hormonell überversorgt?
Zum Glück redet sie nun von etwas anderem: „Fahrt ihr im Sommer wieder hin?“
„Nein, dann wollen wir nach Schweden.“
„Warum denn nach Schweden?“
„Weil ich da noch nie war, weil er mir die Mitternachtssonne zeigen will, weil er segeln lernen will, weil wir beide hübsche Schwedinnen treffen wollen. Denk dir, da kannst du auch nicht mitkommen. Aber warum sind wir heute hier? Machen wir Musik?“
Niemand hört mir zu, denn sie fragt Miloš: „Wann warst du denn in Schweden?“
„Noch gar nicht.“
„Aber wieso fahrt ihr hin, weil Jeremy noch nie da war, wenn du auch noch nie da warst?“
„Na und? Er war noch nie in Schweden und ich will ihm die Mitternachtssonne zeigen. Das sind zwei Paar Schuhe. Es heißt nicht automatisch, dass ich in Schweden gewesen sein muss. Hauptsache, ich habe irgendwo auf der Welt die Mitternachtssonne erlebt.“
„Stimmt“, macht sie. „Und wo hast du sie erlebt?“
„In Russland.“ Merle holt schon Luft, um etwas zu sagen, aber er kommt ihr grinsend zuvor: „Jetzt willst du wissen, wo ich war und was ich da gemacht habe, ja?“
Sie macht eine auffordernde Handbewegung.
„Ich war in Murmansk, das ist an der Barentssee–“
„Der Barents, das war einer von uns“, unterbreche ich, „Ein Niederländer.“
„Aus Zuyderkerk?“
„Nein, der kam von Dersummeroog. In West gibt’s doch die Barentskade, am Hafen. Übrigens hieß er Willem.“
„Wenn ich das damals gewusst hätte, hätte ich eine Gedenkminute für ihn eingelegt. Also“, grinst er, „wenn ich damals auch schon gewusst hätte, dass ich eines Tages hier leben würde. Aber zurück zu Murmansk. Ich habe für die Spedition, für die ich damals unterwegs war, allerhand Krempel hingefahren. Im Juli blüht in Murmansk der Flieder. Überwältigend.“
„Du bist wirklich ein seltsamer Typ“, sagt sie kopfschüttelnd. „Wochenlang bist du mit deinem LKW allein auf der Piste, und alles, was dir davon in Erinnerung geblieben ist, ist die Fliederblüte.“
„Falsch. Das ist nicht alles, was mir in Erinnerung geblieben ist, sondern das ist alles, was ich dir davon erzähle. Natürlich habe ich noch mehr Erinnerungen an Murmansk.“
Prompt fällt sie drauf rein. „Welche denn noch?“
„Liebste Merle, erweise doch jedem meiner Worte die Ehre, angehört zu werden. Ich sagte, das sei alles, was ich dir davon erzähle.“
„Schon wieder so ein Museumssatz“, brummt sie. „Und Jeremy, um deine Frage zu beantworten: wir machen heute keine Musik. Aber das hast du inzwischen sicher selbst gemerkt.“
„Ja. Aber warum eigentlich nicht? Wofür treffen wir uns im Proberaum, wenn wir dann gar nicht proben?“
„Weil Proben nur um des Probens willen doof ist. Ich war mal in einer Band, deren Bandleader erwartet hat, dass man sich gut auf die Proben vorbereitet. Den Schlagzeuger hat er unter anderem deswegen rausgeworfen, weil er nur bei den Proben geübt hat“, sagt Miloš. „Wenn der Bandleader meiner aktuellen Band jetzt auch damit anfängt, werde ich das selbe tun, was ich in der Band getan habe.“
„Oh, das kann ich nicht riskieren“, lache ich. Auf Merles fragenden Blick erkläre ich: „Er hat die Band verlassen. Der gefeuerte Schlagzeuger war allerdings ich, deswegen ist es in seiner aktuellen Band vielleicht noch was anderes.“
Sie lässt einen tiefen Seufzer ab. „Also, wenn einer von euch die Donnerdrummels verlässt … egal warum … dann hör ich auch auf. Das richtige Donnerdrummel gibt es nur mit euch beiden zusammen.“
Sags bitte nicht, denke ich noch. Aber zu spät.

454

Miloš reagiert mittlerweile allergisch auf Stichworte wie Bühne, wenn sie aus ihrem Mund kommen. „Warum willst du das wissen?“, gibt er die Frage reserviert zurück.
Wenn wir hier nur herumstehen und über Musik reden, statt welche zu machen, kann ich auch noch einen Kaffee trinken. Aus Gewohnheit nehme ich gleich zwei Tassen aus dem Regal und fülle die zweite für Miloš.
„Wir könnten David Kuiper fragen. Er hat doch angeboten, uns zu vermitteln. Wenn wir schon ohne Lisanne Musik machen, sollten wir ja wenigstens in unserem Metier bleiben und nicht auch noch die Musikrichtung wechseln. Vielleicht können wir ja den Saxophonisten von Eurocent überreden, mal für einen Auftritt bei uns mitzumachen.“
„Und wie kommst du drauf, dass wir dringend auftreten müssten?“, versuche ich in Erfahrung zu bringen.
„Wir müssen ja nicht dringend … ich hab nur gedacht, es wäre wichtig, noch einen zweiten Versuch zu starten. Können wir ohne Lisanne gar nichts oder haben wir es übertrieben wegen dem Jazz oder hatten wir einfach einen schlechten Tag? So was muss man doch klären. Außerdem will–“ Mitten im Satz überlegt sie es sich anders, „ach nichts“ und winkt ab.
„Was will außerdem?“, frage ich neugierig nach.
„Außerdem wäre es doch schön, noch mal irgendwo Musik zu machen und dabei Spaß zu haben“, lenkt sie mit einem anderen Satz ab.
„Das wäre in der Tat schön“, gehe ich darauf ein. Augen auf im Straßenverkehr! Hat sie vielleicht eine neue Bekanntschaft, der sie ihre Band vorstellen will? „Ruf David an und frag ihn, ob er was für uns hat. Wichtig ist aber, dass der Auftritt erst nach dem dreiundzwanzigsten Februar stattfindet.“
„Was ist am dreiundzwanzigsten?“
„Da kommen wir aus Bosnien zurück.“
„Ihr fahrt nach Bosnien? Nehmt ihr mich mit?“
„Nein“, meldet Miloš sich endlich wieder zu Wort. „Es ist ein Verwandtenbesuch. Vielleicht bei einem anderen Mal.“
„Aber Jeremy hat doch auch keine Verwandten da unten, wieso darf der mit?“
Kopfschüttelnd verdrehe ich die Augen. Das ist ein typisches Merle-Argument. Warum darf ein anderer, was ich nicht darf? Als sie Kind war, musste der Nachtisch bestimmt mit der Waage ausgeteilt werden, damit niemand mehr hatte als sie.
„Doch, hat er“, legt er stur fest. „Und du hast keine.“
„Warum hat Jeremy–“ Mit einem Mal nimmt sie mir die Tasse weg, ignoriert, dass Kaffee auf den Boden kleckert, fasst meine Hand und zieht sie zu sich. „Ich habs geahnt!“, sagt sie triumphierend und klopft mir auf die Narbe. „Ihr habt euch Blutsbruderschaft geschworen. Der Bund des Lebens, sozusagen. Ich wusste es!“
Ratlos gucken wir erst uns, dann sie an.
Ich mache meine Hand los.
Er fragt: „Woher wusstest du es?“
„Ich hab es gespürt. Irgendwas zwischen euch hat sich verändert seit … ungefähr seit Neujahr.“ Zu mir sagt sie: „Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass du auf so archaischen Männerkram stehst.“
„Von ihm hättest du den archaischen Männerkram erwartet?“ Weil sie nickt, frage ich weiter: „Warum von mir nicht?“
„Du bist viel kultivierter.“
„Und er etwa nicht? Wieso interessiert er sich dann für dieses ganze Literaturzeugs? Und guck ihn dir doch mal an, wenn er kellnern geht! Da komm ich aber nicht gegen an!“
„Das mit dem Anzug und den Manieren und so, das ist die Oberfläche. Drunter ist was anderes … wildes … und ich will lieber nicht damit konfrontiert werden.“
„Klingt gefährlich“, grinst er.
„Bild dir jetzt aber bitte nichts drauf ein, ja?“
Er grinst immer noch. „Warum nicht?“
„Wild und eingebildet ist unerträglich.“

453

„In der Fremde kennt mich keiner, das ist ja was ganz Neues!“, werfe ich ein. „In der Fremde sind die Fremden fremd!“
„Was ist denn das für ein blöder Spruch? Womöglich sind deine Fremden in der Fremde zuhause! Ich wollte sagen, wenn dich niemand kennt, macht auch niemand dumme Bemerkungen über deinen veränderten Stil.“
„Stimmt.“
„Aber das ist nicht alles, was ich geregelt habe. Ich war auch bei der Autovermietung. Allerdings musst du das Auto ausleihen, also per Unterschrift. Ich habe mich erkundigt, man braucht eine Kreditkarte und wer weiß, wie lange die Bank braucht, bis sie alles für mich fertig hat. Ich habe alle Formulare mitgebracht, wir können sie mit der Post zurückschicken.“
„Was passiert eigentlich, wenn das Auto geklaut wird? Lande ich dann im Knast?“
„Nein, das zahlt deine Versicherung. Wir werden eine zusätzliche Kaution hinterlegen müssen, weil wir nicht im sicheren Nordwesten Europas bleiben werden, wo nie Autos abhanden kommen. Aber mach dir keine Sorgen, das Auto wird nicht geklaut.“
„Woher bist du so sicher?“
„Erstens werden wir es nicht offen stehen lassen. Zweitens stehen wir unter dem Schutz des Höchsten. Deswegen wird uns auf der ganzen Reise nichts passieren.“
„Amen“, mache ich. Eine bessere Reiseversicherung kann es nicht geben. „Welches Auto wirst du ausleihen?“
„Tja, das ist ein bisschen blöd gelaufen. Wir sind spät dran. Ich wollte eigentlich einen Kombi wie zum Beispiel den Passat nehmen, der ist erstens bezahlbar, zweitens können hinten drei Personen sitzen und drittens passt auch noch viel Gepäck rein. Aber die großen Fahrzeuge sind alle schon ausgebucht. Ich habe Vermietungen bis nach Amsterdam angerufen, aber nichts zu machen. Entweder hatten sie nichts passendes da oder sie wollten ihre Autos nicht nach Bosnien fahren lassen. Ich habe nur noch einen Subaru E12 bekommen.“
„Ist das gut?“
Er lacht. „Man merkt deutlich, dass du keine Ahnung von Autos hast und auch keine von langen Fahrten.“ Er gibt mir einen Prospekt der Autovermietung und tippt auf das Bild eines Kleinbusses. „Der E12 ist eine Keksdose. Es ist laut drin und für Strecken von über zwanzig Kilometer Länge hapert es etwas am Komfort.“
Es hapert! Manchmal frage ich mich wirklich, woher er all diese Wörter kennt. Ich kenne sie natürlich auch – aber ich würde sie nie verwenden.
„Aber wenn es ein Bus ist, kann es ja nicht so schlimm sein.“
„Doch“, macht er trocken. „Der ist für Japaner und klein geratene Südeuropäer wie mich gebaut. Du musst dich leider falten.“
„Ach, es wird schon gehen. Hast du die Route im Internet aufgelistet?“
„Ja, vorhin, als ich in Stevens Büro war. Ich habe auch unsere Festnetznummer angegeben, wenn also fremde Leute anrufen, notiere Namen und Telefonnummer, ich regle das.“
„Und diese fremden Leute wissen, dass ich weder serbisch noch kroatisch rede und auch kein Wort russisch, slowenisch oder italienisch?“(247)
„Das merken sie dann schon.“


hundertvierzigstes Kapitel

Merle hat seit dem missratenen Auftritt im van Loo mehrfach versucht herauszubekommen, was mit unserem Bassisten los war – es ist offensichtlich, dass unsere schlechte Form nicht an ihr oder mir lag – aber er hat sie jedes Mal abblitzen lassen. Am ausführlichsten war er, als er „Das verstehst du nicht“ sagte. Zähneknirschend akzeptiert sie das.(248)
„Ist das Thema Bühne ohne Lisanne abgehakt oder geben wir uns noch eine Chance?“, fragt sie, als wir uns Dienstags zu dritt im Proberaum treffen.

452

Eine Kollegin tritt aus dem Lehrerzimmer und bittet mich, Andjo einen Schnellhefter mitzunehmen. Als ich wieder unten bin und das Dokument bei der Mutter abgegeben und den Schnellhefter in Andjos Fach gelegt habe, ist Wiebke aus der Küche verschwunden und mit ihr der ganze Kaffee. Und die Tasse ist auch weg. Das gibt’s doch nicht! Ich setze neuen auf.
Andjo betritt die Küche. „Warum legst du mir den Hefter hin?“
„Fanny hat im Lehrerzimmer gesessen, als ich da war, ich sollte ihn dir geben.“
„Was machst du mitten am Tag im Lehrerzimmer?“
„Ich bin der neue Praktikant, wusstest du das nicht? Grietje schickt mich Kaffee holen, Wiebke schickt mich zum Sekretariat, ich trage Dokumente und Schnellhefter durch die Gegend und so weiter.“
„Meinst du nicht, dass du dafür ein bisschen überqualifiziert bist?“
Wenn das mit der Qualifikation immer so einfach zu fassen wäre!

Zu Feierabend holt Miloš mich erneut ab.
„Was machst du denn schon wieder hier?“, frage ich.
Er grinst. „Ich war bei Steven und habe ein wichtiges Gespräch mit ihm gehabt.“
„Aha. Ich soll dich übrigens von Ingela grüßen, sie vermisst den literarischen Austausch mit dir“, erledige ich das als erstes.
„Wenn du sie wieder triffst, sag ihr … ach, erinnere mich zuhause dran, dass ich dir was für sie mitgebe.“
„Das klingt ja sehr intim.“
„Davon verstehst du nichts, du Bildchenleser.“
Na klar. Da sind wir wieder beim Thema. Ich verabschiede mich bei allen und wir begeben uns auf den Heimweg. „Worum ging es bei dir und Steven?“
„Welches Datum ist heute?“
„Der dritte Februar.“
„Wo wollen wir am zwanzigsten sein?“
„Ähm … bei Onkel Dragis Geburtstagsfeier“, fällt es mir gerade noch rechtzeitig ein.
„Siehst du. Da muss man ja gewisse Vorkehrungen treffen, wenn man keine Winterferien hat. Ich habe vor nicht einmal zwei Wochen an der neuen Stelle angefangen, Urlaub ist zu diesem Zeitpunkt nicht vorgesehen. Also gehe ich zum Chef und erzähle vom Onkel in der alten Heimat, seinem Geburtstag, die Fahrt war lange geplant, man weiß ja nie, wie lange so ein alter Onkel noch lebt und so weiter. Eine rührende Geschichte! Und das beste daran ist, dass niemand den Wahrheitsgehalt prüfen kann. Steven kennt alle diese Märchen, sagt er.“
„Aber Steven kennt auch dich“, fülle ich die Spannungspause, „deswegen glaubt er dir, dass es kein Märchen ist.“
„Jaha“, singt er auf einmal los, „Und stell dir vohor: Mein Urlaub geht vom achtzehnten bis zum dreiundzwanzigsten. Dienstag bis Sonntag. Wir müssen also nicht gleich nach der Ankunft wieder weg.“
„Du freust dich ja erheblich, endlich wieder nach Peckovar zu kommen“, grinse ich.
„Ich freue mich vor allem darüber, dass alles so einfach geklappt hat. Ich habe noch nie so einen guten Chef gehabt wie Steven. Er hat mich danach nämlich auch noch gefragt, ob ich einen Vorschuss auf den Lohn brauche, weil ein Besuch in der alten Heimat unerwartete Ausgaben nach sich ziehen kann. Verstehst du, er hat das Thema drauf gebracht! Ich musste nicht betteln oder eine Verpflichtung unterschreiben, dass ich tatsächlich wieder komme.“
„Und was machst du mit dem Vorschuss?“
„Ich gehe damit zu meinem anderen Chef Toni und erinnere ihn an das Versprechen seiner Versicherung und dann gehe ich zu meiner alten Freundin Amalia und erinnere auch sie an ihr Versprechen und dann“, er macht schon wieder eine Spannungspause, aber diesmal lasse ich sie ihm, denn ich weiß nicht, worauf er hinaus will, „gehe ich zu meinem besten Freund und schleppe ihn zum Herrenausstatter. So ein Aufenthalt in der Fremde ist die beste Gelegenheit, ein völlig neues Kleidungsstück zu tragen, in dem du nicht sicher bist, denn in der Fremde kennt dich keiner.“

451

„Als würden sie sich seit Jahren kennen“, schmunzele ich.
„So schnell hat hier lange keiner seinen Platz erobert. Man liest so was ja sonst immer nur in billigen Romanen, dass sich zwei sehen und sofort Freunde sind, aber das scheint es tatsächlich zu geben.“
„Was glaubst du, woher die Romanschreiber ihre Ideen haben? Alles hat sich irgendwo und irgendwie schon mal so oder ganz ähnlich zugetragen.“(245)
„Woher kennst du dich auf einmal mit Romanen aus? Solltest du deine Lesegewohnheiten geändert haben?“
„Nein, ich habe meine Mitbewohnergewohnheiten geändert. Nach meinem Bruder, der nur Computerzeitungen gelesen hat, habe ich jetzt einen Hausgenossen, den man kaum mal ohne Buch antrifft. Und je abgedrehter der Inhalt, desto besser. Da bleibt gelegentlich was hängen.“
„Verleihst du ihn?“
„Wen?“, frage ich verwirrt.
Sie lacht. „Den Hausgenossen. Vielleicht bleibt dann auch bei unseren Jungs was hängen. Deutsche Grammatik zum Beispiel.“
„Großes Pech. Ausgerechnet das ist eine der Sprachen, die er nicht kann“, bedauere ich. „Wobei – frag ihn mal, vielleicht will er auch noch Deutsch lernen. Er kann ja erst vier Sprachen fließend und im restlichen Europa wird er auch irgendwie zurecht kommen.“
Ich weiß nicht, welches Stichwort den Salto in meinem Kopf anstößt, jedenfalls entwickelt einer von Grietjes Sätzen plötzlich ein Eigenleben und echot mir durch die Gehirnwindungen. „So schnell hat hier lange keiner seinen Platz erobert.“
So ist es. Ich muss mir den Platz in der Kirche an der Zwaagse Straat erobern. Na klar bin ich willkommen, aber die Leute stürzen sich nicht auf jeden, der zum ersten Mal da ist – dafür ist die Menge der Gottesdienstbesucher zu groß.
Wie kommt man am besten in eine Gruppe hinein, sofern man nicht in der russischsprachigen Gemeinde mit gutem Willen schlechtes Russisch spricht? Indem man mitarbeitet. In einer kleinen Gruppe ist es viel einfacher, Gemeinsamkeiten zu finden.
Und auf Theodorus werde ich mich nicht mehr verlassen. Zum einen bin ich ein ganz kleines bisschen sauer auf ihn, weil er so kurz angebunden war (er wusste doch, dass ich da niemanden kenne!)(246) und zum anderen suche ich ja Leute in meinem Alter.
In welchem Bereich treffe ich Leute in meinem Alter und könnte noch dazu mitarbeiten? – In der Anbetungsband. – Was der Typ da getrommelt hat, schaffe ich sogar, wenn man mir eine Hand auf den Rücken bindet!
„Du hast mir jetzt nicht zugehört, oder?“, fragt sie.
„Äh, was? Entschuldige, ich war mit den Gedanken woanders.“
„So sah das aus. Geh, hol mir einen Kaffee. Dann sag ich alles noch einmal.“
In der Küche steht schon Wiebke, die drauf wartet, dass der Kaffee durchläuft. Ich stelle eine Tasse für Grietje neben die Maschine. Jemand klingelt an der Tür und sie schickt mich zum Öffnen. Es ist eine Mutter, die ihr Kind abholen will. Sie hat ein Dokument dabei, das im Sekretariat abgestempelt werden muss. Weil das mit dem Kaffee noch einen Moment dauert, laufe ich mit dem Blatt rauf.
Die Sekretärin Ingela seufzt, als sie mich sieht. „Sag Miloš einen herzlichen Gruß von mir. Es ist jammerschade, dass er gekündigt hat.“
„Tu ich.“
Sie sucht den richtigen Stempel, drückt ihn ins blaue Farbkissen, stempelt erst mal zur Probe auf die Schreibtischunterlage, damit es auch wirklich der richtige ist. „Ich vermisse ihn und die intensiven Unterhaltungen mit ihm. Hier interessiert sich niemand für Literatur.“
„Werd ich ausrichten“, verspreche ich. Noch eine, die seltsame Bücher liest!

450

Oh weia. Will ich „dazu eingeladen“ werden? Eher nicht. „Wie war denn die Predigt?“, bringe ich ihn auf andere Gedanken.
„Sehr komplex. Ich habe nicht alles verstanden, ich muss es gleich nacharbeiten. Es gibt zwei Bibelkreise, Dienstag- und Donnerstagabend, da werde ich hingehen – natürlich nur am Donnerstag. Da wird auch eine Predigt gehalten, aber alle dürfen ihre Meinung dazu sagen und wie sie die Stelle verstehen. Da werde ich viel lernen können.“
Miloš stellt Abendbrot für uns beide hin, deswegen setze ich mich zu ihm. Eigentlich habe ich gar keinen Hunger.

Nach dem Essen nimmt er sich die große Bibel mit den Stichworterklärungen aus dem Regal und arbeitet seine Predigtnotizen durch. Weil ihm das nicht reicht, liest er die Verse danach noch einmal in der serbischen Übersetzung.(244) Dann steht er auf, geht in den Flur und ruft von dort: „Wo hast du denn den Rucksack hingeräumt?“
„Unter die Treppe. Da ist er übrigens immer, falls du ihn noch mal brauchst.“
Er kehrt mit einem abgegriffenen Buch zurück. „Guck, was ich geschenkt bekommen habe“, sagt er und hält es mir hin.
Ich blättere auf. Es ist sehr dünnes, leicht gelbliches Papier und der Text ist in zwei Spalten aufgeteilt. „Eine serbische Bibel“, tippe ich, denn die Buchstaben sind fremd.
„Nein“, sagt er, „eine russische. Das ist total praktisch. So muss mir nicht während der Predigt noch übersetzen, sondern kann gleich in der richtigen Sprache lesen. Soll ich dir gleich etwas vorlesen?“
„Wovon?“
„Na, hier aus der russischen Bibel. Vielleicht übersetzt es dir der Heilige Geist.“
„Sehr witzig. Da könnte ich ja auch direkt in meiner lesen.“
„Tust du aber nicht.“
„Nee, tue ich nicht.“
„Tamar hat mich übrigens gelobt. Mein Russisch ist seit dem Sommer schon viel besser geworden, sagt sie. Andere fahren nach Russland, wenn sie russisch lernen wollen, ich erledige das in den Niederlanden. Diese Gemeinschaft wird mir in vielerlei Hinsicht zum Gewinn.“
Ich mag es nicht mehr hören. Nicht, dass ich es ihm nicht gönne, Anschluss gefunden zu haben an eine gute Jesusgemeinschaft – aber warum ist das bei ihm so toll gelaufen und bei mir gar nicht?
Ich weiß nicht mal, ob ich noch einen weiteren Versuch in einer anderen Kirche starten soll. Wahrscheinlich bin ich einfach nicht dafür geschaffen, neue Wege zu gehen. Es gibt ja so Leute, die machen alles anders als ihre Vorfahren. Mein Kumpel ist das beste Beispiel. Der hat sogar sein Land verlassen. Und andere bleiben eben da, wo die Vorfahren auch schon waren.


hundertneununddreißigstes Kapitel

Montags arbeitet er nur von früh bis um dreizehn Uhr und holt mich an der Schule ab, damit wir schnell mal gemeinsam zum Geldinstitut meines Vertrauens fahren können. Natürlich geht es dort nicht so einfach, wir müssen erst einen Termin machen. Und natürlich ist diese Woche auch nichts mehr frei, aber kommende Woche Dienstag um zehn Uhr. Miloš fährt danach gleich weiter zur Bäckerei, um den Termin abzuklären und gegebenenfalls ein paar Arbeitsstunden zu tauschen.
„Das ging ja schnell“, empfängt Grietje mich, als ich zurück in den Gruppenraum komme.
„Wir mussten erst einen Termin machen. Nächste Woche Dienstag um zehn werde ich noch einmal dafür verschwinden.“
„Ist gut. Guck dir das an“, sie nickt zu zwei Jungen hin, die versunken miteinander spielen. Der eine ist Frederik, er ist schon seit fast einem Jahr bei uns. Der andere, Bo, hat heute seinen ersten Schultag gehabt. Seine Eltern sind hierher umgezogen.

449

„Ich hab auch eine Frage. Du hast mir ja die Bedeutung von meinem Namen gesagt. Wenn ich aber so einen starken Willen habe – warum bin ich dann immer so unsicher, wie Leute über mich denken und bei Entscheidungen und so?“
„Tja“, sagt er. „Wieso bist du so?“
Das war keine Antwort. „Ich mein ja nur. Das passt nicht so richtig zusammen.“
„Stimmt. Es passt nicht richtig zusammen. Warum kommst du mit dieser Frage zu mir?“
„Na ja … weil du Miloš’ Fragen ja auch alle beantwortest.“
„Wer sagt denn so was?“
„Keiner, aber ich hab gedacht … weil … also“, geht dem Satz die Luft aus.
„Jeremy Willem“, sagt er ruhig und guckt mich so an, dass ich mir ganz klein vorkomme.
„Ja“, mache ich und meine Stimme klingt auf einmal auch piepsig.
„Wer bist du in Gottes Augen? Was ist deine Identität? Das ist die Frage, die du dir stellen musst. Und wenn du auf die Frage eine Antwort gefunden hast, stellen sich die anderen gar nicht mehr.“
„Kannst du mich vielleicht noch segnen und so?“
„Ich segne dich im Namen Gottes.“ Er klopft mir zum Abschied die Schulter und geht fort.
Und ich bleibe mitten im Gewimmel stehen und fühle mich leer und einsam und fehl am Platz. Weil mich auch fünf Minuten später noch niemand angesprochen hat, hole ich meine Jacke und gehe zur Bahnstation.
Ich bin so frustriert, als ich im Zug sitze! Das hatte ich mir anders vorgestellt. Die Leute waren zwar nicht unfreundlich, aber keiner hat mit mir geredet. Alle hatten zu tun oder einen Gesprächspartner. Und auch das mit dem Segen hatte ich mir anders vorgestellt. Mehr Worte. Ungefähr so, wie ich die Leute segne. Und überhaupt, das ganze Projekt „neue Kirche finden“ hatte ich mir anders vorgestellt! Ein bisschen erfolgreicher, einfacher, willkommener!
Aber das ist gründlich in die Hose gegangen.

Ich setze mich auf das Sofa mit Beleuchtung, aber lesen will ich nichts. Im Radio gibt es nur Blödsinn, die CDs gefallen mir nicht. Um zehn nach sieben kommt der Mitbewohner heim. Ich raffe mich eilig vom Sofa hoch, damit er es nicht tut.
„Ach, bleib sitzen“, lacht er. „Das war ja nur ein kurzer Arbeitstag. Was hast du gekocht?“
„Nichts, ich war bei Mommi.“ Genau. Den ganzen Nachmittag war ich da. Ich bin gar nicht nach Hoorn gefahren.
„Hm-hm, tjajaja, was esse ich denn?“, singt er vor sich hin, während er in die Küche geht und in die Schränke guckt. „Es gibt übrigens die Möglichkeit, abends das Brot zum halben Preis zu kaufen, also das, was sonst zurück in die Backstube gehen würde. Steven hat es mir gesagt, er ist zwischendurch da gewesen. Es war ja heute mein erster Tag, an dem ich ganz alleine verkauft habe. Wenn das in dein Biobäckerbrotkonzept passt, bringe ich in Zukunft das Brot mit. Wir futtern schon ziemlich viel weg, da könnten wir etwas sparen.“
„Was passiert denn mit dem Brot, das sonst zurück in die Backstube geht?“
„Hm. Weiß ich auch nicht. Ich frage Steven, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.“
„Warum hast du eigentlich so gute Laune?“, wundere ich mich.
„Ich? Gute Laune? Ich bin doch ganz normal?“
„Aber du lachst und singst. Und redest total viel. Und das ganz ohne Verhörlampe.“
„Vielleicht hängt das mit dem Sonntagvormittag zusammen. Es war wunderbar. Die Gruppe ist winzig, es gehen vielleicht dreißig Leute hin, die meisten sind mindestens sechzig Jahre alt. Es gibt auch Familien mit Kindern, aber sehr wenige. Ich habe Levian gefragt, woher die ganzen alten Leute kommen, und er sagt, dass es die Eltern von ehemaligen Saisonarbeitern sind, die sich hier niedergelassen haben und ihre Alten nachgeholt haben. Die Jungen wollen mit Jesus nichts am Hut haben und so kommen nur die Alten. Es fühlt sich seltsam an, auf einmal einer der Jüngsten zu sein. So ganz jung bin ich ja auch nicht mehr.“
„Und wie sind die so? Also davon abgesehen, dass die meisten alt sind.“
„Sehr freundlich, ich habe heute schon drei Einladungen bekommen für den Nachmittag, aber ich konnte leider nicht. Aber nächste Woche Sonntag habe ich frei. Wenn du mitgehst in den Gottesdienst, laden sie dich bestimmt noch dazu ein.“

448

Besagtes Gebäude in der Zwaagse Straat sieht aus wie eine Fabrikhalle und Scharen von Menschen strömen hinein. Viele kommen wie ich mit der Bahn, andere mit dem Fahrrad oder dem Auto.
Drinnen ist alles genauso groß und voll wie von außen. In der riesigen Halle stehen hunderte Reihen von Stühlen, vorne ist eine drei Stufen hohe Bühne eingebaut, auf der sich eine Band versammelt. Drei Sängerinnen, ein Mann mit Saxophon, eine Frau mit Geige, eine mit Querflöte, zwei Gitarristen, eine Bassistin (das sieht man selten), ein junges Mädchen am Klavier und ganz zum Schluss hastet ein junger Mann hinter die Trommeln. Ohne Soundcheck fangen sie gleich an zu spielen. Vermutlich gab es heute früh schon einen Gottesdienst, bei dem sie auch Musik gemacht haben.
Ich finde einen leeren Stuhl in der Mitte des rechten Blocks und lasse mich nieder. Weil aber alle um mich her im Stehen singen, stehe ich auch wieder auf.
Das musikalische Niveau ist zwar höher als das der Jesus-Pop-Band, als ich dort noch beteiligt war, aber ein Instrument schränkt mein Hörvergnügen ziemlich ein. Besser gesagt derjenige, der es bedient. Es ist der Schlagzeuger. Vielleicht will er die dauernden Taktwechsel als Kunstform etablieren, aber das ist doch kein Rhythmus! Mein perfektionistischer Bassistenfreund würde ausrasten, wenn ich ihm so etwas bieten würde! Die anderen sind eigentlich recht gut, bloß die Mischung der Instrumente ist stellenweise unvorteilhaft. Von Geige und Querflöte hört man kaum was, sie sind zu leise.
Ich lasse die Musikkritik sein, denn dafür bin ich ja nicht hergekommen. Und man darf ja nicht vergessen, wofür die Musik gemacht wird. Wir wollen Gott anbeten.
Das wird dadurch erschwert, dass ich keins der Lieder kenne. Weil ich immerzu nach dem Text in der Beamerpräsentation suchen muss, kann ich nicht richtig mitmachen.
Mit der Predigt ist es ähnlich. In der Reihe hinter mir wird permanent getuschelt. Erst kurz bevor ich mich ärgerlich umdrehen will, geht mir auf, dass da jemand ins Deutsche übersetzt. Nun gut. Aber jetzt, mittendrin, aufstehen und einen anderen Platz suchen? Ich sortiere mal meine deutschen Vokabeln, um die Person hinterher ansprechen zu können.
Eh’ ich es mich versehe, ist die Predigt auch schon rum und die Leute strömen zum Kaffee, zu den Toiletten, zum Büchertisch(243), zur Bühne, wollen mit dem Prediger reden, mit den Bandmitgliedern, mit Freunden, Verwandten, Bekannten, Kinder aller Altersstufen rennen zwischen den Stuhlreihen herum. Es ist ein irres Gewimmel, in dem ich mir verloren vorkomme. Wen soll ich denn hier ansprechen? Wie mit wem in Kontakt kommen? Warum habe ich mich nicht vorher erkundigt, wie groß die Gemeinschaft ist?
Mit einem Mal sehe ich Theodorus am anderen Ende der Bühnentreppe. Ich arbeite mich zu ihm durch. Weil er zwischendurch den Standort wechselt, dauert es eine Weile, bis ich ihn endlich erreicht habe.
Er spricht mit einem jungen Mann in meinem Alter. Ich stelle mich zu den beiden, als gehörte ich dazu.
Theodorus nickt mir freundlich zu, stellt mich aber nicht vor.
Jetzt sagt der junge Mann: „Danke für die Antwort. Das hilft mir sehr.“
„Bitte, nichts zu danken.“
Anstatt uns miteinander bekannt zu machen, geht er weg! Und der junge Kerl geht auch weg! Wie soll ich denn mit irgendwem in Kontakt kommen, wenn niemand mich anspricht?
Ich folge ihm weiter durch das Getümmel und erwische ihn erst, als er bei einer älteren Frau stehen bleibt und mit ihr ein paar Worte wechselt.
Dieses Mal werde ich schneller sein.
Als auch das Gespräch zu Ende ist, lege ich meine Hand auf Theodorus’ Arm.
„Jeremy Willem, was gibt’s?“, fragt er.

447

Um Theodorus nach ein paar Adressen fragen zu können, muss ich erst mal seine Telefonnummer bekommen und dafür bietet es sich an, vor oder nach dem Gottesdienst Mommi zu fragen. Also hoppla ausgehfertig gemacht, gefrühstückt und das Haus verlassen!

Nicht dass ich es drauf anlegen würde, aber ich schaffe es, in der Kirche nur auf Banalitäten angesprochen zu werden. Ja, ein bisschen mehr Tiefe im Miteinander wäre fein. Aber sind die Ansprüche an meine Glaubensgeschwister nicht ein bisschen hoch? Ist eine gewisse Oberflächlichkeit nicht ganz normal? Man kann doch nicht von jedem wissen, was ihn oder sie gerade bewegt? Na ja, ich muss mich bei dem Thema bedeckt halten, ich kann mir ja kaum die Namen der Leute merken, denen ich zum Teil seit Jahrzehnten jeden Sonntag begegne. Aber trotzdem! Soll ich denn bloß wegen meiner Namensschwäche auf intensive Beziehungen verzichten? Außerdem ist das auch gar nicht so gravierend, denn mir entfallen nur die Namen der Personen, mit denen ich nicht viel zu tun habe.
Als ich Mommi endlich aufgespürt habe, weicht die ärgerliche Stimmung von mir. „Ich hab heute keine Lust zu kochen, krieg ich bei dir was?“, falle ich mit der Tür ins Haus.
„Natürlich. Wo ist denn der Miloš?“
„Der ist heute eingeladen worden in eine andere Kirche in Hoorn und danach fährt er gleich zur Arbeit.“ Aber vielleicht gefällt es ihm da ja gar nicht, und er hilft mir bei der Suche? Ach nein, ich soll das ja alleine können.
„Warum bist du nicht mitgefahren?“
„Weil das eine russische Freikirche ist. Ich glaube nicht, dass da niederländisch geredet wird. Das müssen die Leute ja schon im Alltag immer tun.“
Sie mustert mich, spricht aber von anderen Dingen: „Was möchtest du denn essen?“
„Ist mir egal, Hauptsache, es gibt Wolkenpudding zum Nachtisch.“
„Das schaffen wir, Junge.“
„Übrigens brauche ich Theodorus’ Telefonnummer.“
„Gebe ich dir.“

Irgendwie kommt es, dass ich ihr beim Kochen erzähle, warum ich so unzufrieden mit der Kirche – und mir selbst – bin. Und was ich mir von Theodorus erhoffe. Und warum ich es blöd finde, dass Miloš in diese russische Freikirche geht. Und dass ich lieber schneller als er gewesen wäre mit dem Neu-Finden.
Nach dem Essen drängt Mommi mich: „Nun ruf ihn schon an.“
„Warum ist das auf einmal so eilig?“
„Vielleicht sitzt er nicht den ganzen Nachmittag zuhause herum. Mach schon!“
Er scheint am Telefon gestanden zu haben, denn er nimmt direkt ab. „Van Ooyens.“
„Hier ist Jeremy Willem van Hoorn“, sage ich. So langsam finde ich Gefallen an meinem Doppelnamen. „Hast du ein bisschen Zeit?“
„Ich wollte gerade aus dem Haus gehen. Was kann ich für dich tun?“
„Ganz kurz zusammen gefasst brauche ich ein paar Adressen von Gemeinden oder Kirchen, bei denen du mir empfehlen kannst hinzugehen. Mit meiner Kirchengemeinde bin ich aus verschiedenen Gründen seit längerer Zeit unzufrieden und will mich umgucken, ob es anderswo besser passt.“
„Du könntest in meine freikirchliche Gemeinde hier in Hoorn gehen. Der Gottesdienst fängt um fünfzehn Uhr an. Es ist das große Gebäude in der Zwaagse Straat, gleich gegenüber der Bahnhaltestelle.“
Wie immer geht mir das viel zu schnell. Aber ich ringe mich zu einem „Okay“ durch.
„Schön, Jeremy Willem. Vielleicht sehen wir uns ja.“
Ich will noch fragen, was er mit dem „vielleicht“ meint, aber da hat er schon aufgelegt.
Ach ja, fällt mir ein, er hat gesagt, dass er aus dem Haus gehen wollte, weswegen er sicher so kurz angebunden gewesen ist. Bestimmt können wir nachher ein paar Worte wechseln. Ich habe nämlich eine Frage an ihn, ungefähr schon seit Weihnachten.

446

Verlegen schaut er auf den Palmenstrand. „Na ja, es ist, weil … Es wird so wenig über Jesus erzählt. Und manche Leute haben ein ganz komisches Bild von ihm … und glauben gar nicht, dass es auch den Heiligen Geist gibt und was er so machen kann. Ich habe noch keinen gefragt, aber ganz sicher glauben auch welche, dass man sich nicht so richtig gegen den Teufel wehren kann, sondern dass man das einfach aushalten muss. Und ich … ich will immer nur mehr wissen, wie Jesus ist, und in der Kirche … also die Predigten sind schon interessant, aber ich glaube … also …“, er schnauft tief durch, „wenn ich nur das gewusst hätte, was in der Kirche gesagt wird, hätte ich nie Jesus als Herrn angenommen.“
„Ja. Das hab ich auch schon mal gedacht.“
Ein paar Minuten ist es still zwischen uns, dann frage ich, was mir in den Sinn kommt: „Seit wann denkst du darüber nach?“
Jetzt schaut er mich an. „Bist du sauer, dass ich dir nicht schon eher davon erzählt habe?“
„Nein, ich will nur wissen, seit wann du darüber nachdenkst.“
„Eigentlich schon, seit der Geist mich das erste Mal umgehauen hat, aber so richtig, dass ich gehen will, seit letzter Woche. Theodorus sagt, es ist wichtig, dass ich meine Identität als Kind Gottes kennen lerne. Ich bewundere das, dass du ja dieselben Sachen erlebst wie ich und trotzdem so treu hingehst. Wahrscheinlich liegt das daran, dass du schon viel mehr über Jesus weißt. Aber ich kann das nicht.“
„Ich erlebe nicht dieselben Sachen wie du. Dass ich für jemanden bete und der dann umkippt, habe ich bei dir das erste Mal erlebt, und ich war ganz schön erschrocken, das kannst du mir glauben.“
„Ach, und ich dachte … woher weißt du dann immer, dass es der Heilige Geist ist?“
„Er sagt es mir. Als du umgekippt warst, hat er mir erklärt, dass er mit jedem anders kommuniziert. Deswegen habe ich schnell kapiert, dass du wegen ihm im Proberaum gelacht hast und nicht aufhören konntest. Lisanne meinte, ob du wieder auf Drogen bist.“
„Ausgerechnet bei ihr hätte ich gedacht, dass sie das durchschaut.“
„Ausgerechnet Lisanne ist bei dem Thema ziemlich konservativ. Sie hat es noch nicht so erlebt, deswegen kann das nicht sein.“ Mit fällt noch eine Frage ein: „Wirst du in eine andere Kirche gehen?“
Er nickt. „Levian hat mich eingeladen. Sie gehen in Alkmaar in eine Freikirche, in der viele Russen sind, im Sommer auch Saisonarbeiter aus ganz Osteuropa. Die fangen um acht an.“
„Dann musst du ja gleich los.“
Etwas anderes ist ihm dringender. „Wird das ein Problem sein für unsere Freundschaft?“
„War es ein Problem, als du noch in gar keine Kirche gegangen bist?“, frage ich zurück.
Erleichtert grinst er. „Hauptsache, ich kann dich weiterhin alle Sachen fragen.“
„Solange ich was weiß, will ich dir Antworten geben.“

Als ich alleine am Tisch sitze, habe ich einen faden Geschmack im Mund.
Miloš ist weg, und das bezieht sich nicht nur auf seinen momentanen Aufenthaltsort. Ich wollte eine neue Kirche finden und ihn mitnehmen und jetzt ist er schon wieder schneller gewesen als ich. Aber in einer russischen Freikirche werde ich kaum eine Heimat finden, da steht mir nicht nur die Sprache im Weg.
Habe ich jetzt überhaupt noch einen Grund, die Kirche zu verlassen? Oder ist es nicht vielleicht sogar so gewesen, dass ich auf Miloš’ Hilfe gehofft hatte in der neuen Kirche? Während ich noch überlege, was Smalltalk ist, hat er ja schon mit allen Leuten Kontakt!
Menno, Jesus, warum bin ich immer so schwerfällig bei Veränderungen?, maule ich ihn an.
Hör auf, dich an Miloš zu messen, lautet sein praktischer Rat. Wenn du eine neue Kirche finden willst, schaffst du das auch ohne ihn. Frag doch mal Theodorus nach ein paar Adressen.

445

„Ähm“, fange ich an, verbeiße mir dann aber den Protest. Es ist jetzt kurz nach sieben. Selbst mit einem Kollegen und Routine hat er einen langen, harten Arbeitstag hinter sich. Apropos Kollege. „Haben sie noch eine Aushilfe gefunden?“
„Von drei bis zum Schluss war Peggy da.“
„Ist die nett?“
„Ja. Was hast du gekocht?“
„Kürbispüree mit Pilzen.“
„Keine Ahnung, was das ist, aber es riecht gut. Übrigens hast du ein wunderbares Sofa gebaut und wenn du diese Verhörlampe wegdrehen könntest, würde ich die Augen öffnen.“
„Verhörlampe, ja? Ich glaube nicht, dass die bei dir was bewirken würde. Was du nicht freiwillig erzählen willst, erzählst du nicht, da hilft auch keine Gewalt.“
„Du hast noch nicht alle Möglichkeiten ausprobiert, um Gewalt auszuüben.“
„Das ist eine ganz großartige Idee“, freue ich mich übertrieben. „Gewalt ist die Lösung! Für alles! Und was so eine richtige Freundschaft ist, die erträgt auch Gewaltausbrüche, nur weil man etwas wissen will, was der andere nicht sagen will. Außerdem hast du mir ja geschworen, dass du mich nie verlässt, also kann ich mit dir machen, was ich will! Dass ich da nicht eher drauf gekommen bin!“
„Hm“, macht er, „wenn du das so betonst, klingt es auf einmal doch nicht mehr so gut.“
„Siehste. Nebenbei gesagt ist es auch gar keine Verhörlampe, sondern eine Leselampe und wenn du mich nicht vertrieben hättest, hätte ich sicher Zeit gefunden, sie auszuschalten.“
„Entschuldigung.“
Ich knipse das Licht aus.
Er macht die Augen auf.

Am Freitag habe ich den Weg des kleineren Widerstands gewählt und mich gegen Feierabend vom Sofa ferngehalten.
Am Samstag ist er vorm Frühstück laufen gewesen, dann haben wir gemütlich gegessen und anschließend unter Miloš’ Regie Wohnraum, Bad und Küche geputzt.(241) Danach ist er zur Arbeit gefahren und ich habe mit den Vorbereitungen für den Besuch von Bibi und Arjen am Abend angefangen.
Abends dann haben wir gut gegessen und viel gelacht, haben Baupläne für Schuppen entworfen und über Werkzeug und Baustoffe gefachsimpelt, über Schiffe gesprochen und über Urlaubsziele zwischen Nordkap und Mittelmeer, haben Vermutungen entkräften können (Bibi und einige andere Frauen aus der Straße sind tatsächlich davon ausgegangen, dass wir ein Paar sind – Helenas Lästerei ist nicht ganz unbegründet gewesen) und eine Gegeneinladung erhalten.


hundertachtunddreißigstes Kapitel

Am Sonntagmorgen sitzt er schon essend am Tisch, als ich aus dem Bad komme. Wahrscheinlich hat er vorher auch schon da gesessen, aber ich habe nicht drauf geachtet. „Was tust du denn so früh hier?“, erkundige ich mich. „Und woher hast du den Anzug?“
„Levian hat ihn mir geliehen.“
„Levian? Wer ist denn das?“
„Der Vater von Tamar und Debora.“
„Ach ja, stimmt.“(242)
„Kannst du mir deinen dunkelgrünen Rucksack leihen?“
„Klar, aber wofür? Was hast du denn vor?“
„Ich … ähm … komm her und setz dich.“
Verwundert tue ich, was er sagt.
„Also, ich … ähm … ich gehe nicht mehr mit in die Kirche.“
„Oh. Warum, wenn ich fragen darf?“

444

hundertsiebenunddreißigstes Kapitel

Am späten Mittwoch hat er einen Anruf aus der Bäckerei gekriegt, dass die Aushilfe für morgen früh sich krank gemeldet hat. Man versuche noch eine andere Aushilfe dazu zu holen, aber in der Frühe müsse er jedenfalls den Laden aufmachen.
Das führt dazu, dass wir uns am Donnerstagmorgen nicht sehen. Wenn er nämlich nicht so ganz früh raus muss, essen wir oft zusammen und hinterher bricht er zum Sport auf. Allerdings stehe ich nicht für ihn früher auf. Gemeinschaft hin oder her, das bringe ich nicht fertig. Wann wir uns abends sehen werden, kann auch noch niemand sagen. Eigentlich wäre er bis Ladenschluss eingeteilt gewesen, aber der Plan ist ja bereits hinfällig.

Nachdem mein Feierabend erreicht ist, hänge ich erst ein bisschen planlos zuhause herum – ich bin schon so daran gewöhnt, nicht alleine zuhause zu sein, dass ich mir ein Ausgleichsprogramm ausdenken muss, wenn mein Mitbewohner mal keine Zeit hat für mich – dann besinne ich mich unseres neuen Möbelstücks.
Ich habe das Sofa schließlich nicht repariert, damit es nur in der Gegend herumsteht! Leider ist die reine Liegefläche per Zollstockdefinition genau 1,77m lang; für Südeuropäer reicht das. Aber wenn ich ein paar Stuhlkissen auf die Lehne lege und darauf meine Beine, geht es. Jetzt den Fernseher anschalten … das wärs. Feierabend, Sofa und Fernseher, das gehört ja irgendwie zusammen. Ach, und vielleicht ein Bier.
Dabei fällt mir ein: Sag mal, Jesus, wenn das alkoholfreie Jahr rum ist, gibt’s dann wieder Bier in meinem Haushalt?
Das solltest du vielleicht Miloš fragen und nicht mich.
Du könntest ja mal fix in die Zukunft gucken und es mir sagen.
Du könntest auch einfach abwarten, bis es so weit ist.
Och menno. Was bringt die Herrschaft über Zeit und Raum, wenn man sie nicht nutzt?
Statt mich weiter über ungenutzte Fähigkeiten zu ärgern, nutze ich meine eigenen Fähigkeiten, gehe in die Küche und lasse mich vom Vorhandenen inspirieren.
Mommi hat kürzlich von einer Freundin mit großem Gemüsegarten ein paar Kürbisse geschenkt bekommen und den größten hat sie an mich weitergeschenkt. Kürbisse lassen sich lange lagern. Aber ich glaube, heute ist sein letzter Tag gewesen. Ja, es gibt Kürbis-Kartof­felmus mit braunen Champignons.
Ich schäle und zerteile den Kürbis und so auch die Kartoffeln und koche beides gemeinsam. Derweil putze ich die Pilze und schmore sie kurz in Butter an. Als die Kartoffeln gar sind, püriere ich sie und den Kürbis, schmecke mit Salz, Pfeffer, Muskatnuss, körniger Brühe und diversen Kräutern ab, gebe zwei Eier hinzu und reichlich geriebenen Emmentaler.(240) Wenn nun der Mitbewohner käme … aber er kommt nicht. Ich esse alleine.
Weil es ja nicht sinnlos herumstehen soll, verziehe ich mich nach dem Essen wieder aufs Sofa. Schade, dass es zum Liegen zu kurz ist! Sollten wir uns vielleicht noch ein zweites Sofa zulegen? Aber zum Sitzen ist es ja auch fein. Ich lege die Füße auf den Korbsessel und will mir ein Buch aus dem Regal nehmen. Arm zu kurz! Ich schiebe das Sofa näher ans Regal. Jetzt ist die Deckenlampe zu weit weg, um die kleinen Buchstaben zu erkennen. Eine Leselampe wäre praktisch. Mal sehen, welche verwertbaren Einzelteile habe ich denn noch auf Lager? Eine alte Schreibtischlampe ohne Fuß. Hm. Wenn ich die ans Stativ des Baustrahlers montiere … den Strahler braucht man ja nicht jeden Tag. Oder könnte ich die fußlose Lampe direkt am Sofa befestigen, damit es sozusagen eine erleuchtete Liegestatt ist?
Zur Befestigung dient mir der Schrubberstiel – müssen wir halt einen neuen kaufen, dazu ist jetzt keine Zeit – und eine Menge Draht. (Unterhalb der Armlehne hält der Draht den Stiel am Sofa, oberhalb die Lampe am Stiel. Ich kann mir mein Bastlerleben ohne Draht nicht vorstellen.) Dazu ein Verlängerungskabel und fertig ist das beleuchtete Sofa! Nun steht meinem Lesevergnügen nichts mehr im Wege.
Ich bin noch keine Seite weit gekommen, als die Terrassentür auf- und wieder zugeht. „Hoi“, macht Miloš, verliert Schuhe, Tasche und Jacke auf dem Weg durch die Wohnung, zieht mich vom Sofa, breitet sich selbst darauf aus und hat die Augen schon zu, bevor er liegt.

443

„Kann ich, muss ich aber nicht“, blödele ich erleichtert. „Pass auf, das ist so. Wenn wir beschließen, ein gemeinsames Konto zu eröffnen, legen wir alles genau so fest, wie wir beide es haben wollen. Ich sage meine Ideen und Erfahrungen, du sagst deine Ideen, und wir gestalten es so, wie es uns sinnvoll erscheint. Oder wie der Mensch auf der Bank sagt, dass es sinnvoll wäre. Der hat ganz sicher auch noch eigene Ideen, aber wir müssen sie ja nicht annehmen.“
„Hattest du mit Helena nur das gemeinsame Konto oder auch noch ein eigenes?“
„Wir hatten jeder noch ein eigenes, weil ich ja zum Beispiel auf ein Schlagzeug gespart habe und sie ihr Geld lieber für Klamotten und Nagellack und so Zeug ausgegeben hat. Auf das gemeinsame Konto hat monatlich jeder einen festen Prozentsatz vom Gehalt eingezahlt. Und davon haben wir Miete gezahlt, Essen, gemeinsame Unternehmungen oder Urlaub, größere Anschaffungen und so weiter.“
„Und wer hatte die Idee, ein gemeinsames Konto anzufangen?“
„Was für eine Frage! Sie natürlich!“
„Und als ihr euch getrennt habt?“
„Haben wir es halbe-halbe geteilt.“
„Habt ihr denn immer die gleiche Menge eingezahlt?“
„Nein, erst war ich noch im Studium, da hat sie mehr eingezahlt als ich, und hinterher hatte ich den besseren Job, da war mein Anteil größer. Ich war glaube ich noch im Studium, als wir uns darauf geeinigt haben, dass wir im Falle einer Auflösung die Summe halbieren.“
„Aber das war ja für dich ein Verlust, weil du mehr beigetragen hast als sie.“
Ich winke ab. „Wenn eine Beziehung kaputt geht, ist das immer mit Verlusten verbunden. Für alle Beteiligten. Und man kann die gemeinsamen Besitztümer auch nicht genau zur Hälfte teilen. Man kann nur hoffen, dass man eine Einigung findet.“
Er nickt und schweigt ein paar Gedanken lang. Dann: „Wie würdest du es jetzt machen?“
„Genauso. Jeder sein eigenes und ein gemeinsames Konto. Und auch die Sache mit dem Prozentsatz würde ich beibehalten.“
„Fünfzig Prozent?“
„Nein, dreißig für dich und siebzig für uns.“
„Dreißig Prozent ist aber nicht sehr viel.“
„Doch. Für Taschengeld ist es eine Menge. Wir können nach einem Jahr gerne noch mal drüber nachdenken. Aber versuch es bitte erst mal so.“

Es dauert eine kleine Weile, bis er schließlich sagt: „Jeremy … wie viel Geld ist dir durch meine Ignoranz verloren gegangen?“
Oh nein. Du wirst jetzt nicht jeden Euro aufrechnen! „Ich verstehe die Frage nicht“, behaupte ich vorsichtshalber.
„Du hast gesagt, dass du fast die ganze Miete allein gezahlt hast. Zwei Monate lang hier, aber auch sechs Monate lang in der alten Wohnung. Die übrigen Lebenskosten kommen ja noch dazu. Es tut mir leid, ich habe nicht darüber nachgedacht. Wie viel hast du in unser gemeinsames Leben investiert?“
Ich bleibe dabei. „Versteh ich nicht.“
„Du hast mehr ausgegeben als ich. Wie viel davon schulde ich dir jetzt?“
Er lässt nicht locker. Er lässt nie locker! Laut Marjorie ist unsere WG ein Wunder – vor allem, dass sie immer noch besteht. Ich habe ja die selben Macken. Ich hole tief Luft. „Hab ich in der ganzen Zeit, die wir uns jetzt kennen, irgendwann mal die Hand aufgehalten und wollte Geld zurück haben, das ich für dich ausgegeben hatte?“
„Nein.“
„Warum glaubst du, dass ich es jetzt anders machen würde? Ich will das Geld nicht.“
„Aber es ist viel!“
„Wenn du willst, dass wir schon wieder Streit ums Geld kriegen, rate ich dir, mach genau so weiter. Ich sags dir zum letzten Mal: Ich. Will. Es. Nicht. Kapiert?“, nutze ich seine Stilmittel zur Grenzmarkierung.
Miloš erkennt sie auch. Beschwichtigend hebt er die Hände.

442

„Du kannst dein Geld nicht für Sport ausgeben, es ist bereits fest eingeplant für–“
„Wieso verplanst du mein Geld?“
Ich atme noch einmal tief durch und versuche es anders. „Bis jetzt hat das Leben hier nicht viel gekostet für dich, aber das lag daran, dass du kaum Ansprüche hattest und du für die anderen Sachen oft eingeladen wurdest.“
„Mach mir ein schlechtes Gewissen“, brummt er.
„Das hat nichts mit schlechtem Gewissen zu tun, ich sage nur, wie es ist.“
„Warum hast du für mich mitbezahlt?“
„Nicht nur ich, sondern auch Pieter und Cokko. Wir wollten nicht, dass du zuhause bleiben musst, bloß weil du kein Geld hast.“
„Und warum weiß ich davon nichts?“
„Weil du einen Riesenterz vom Zaun gebrochen hättest, wenn wir dich vorher gefragt hätten. Leider bist du ja ziemlich stolz, was das betrifft.“(239)
„Hm“, macht er verlegen. Und nach dem übernächsten Atemzug: „Danke.“
„Gern geschehen.“
„Aber wieso können wir dann jetzt nicht zum Sport gehen? Ich will ja gar nicht, dass du mich einlädst, wenn es sein muss, kann ich für dich mitbezahlen! Freu dich doch, dass ich auch endlich mal Geld habe!“
„Ja, freut mich auch. Aber es ist nicht dein–“
„Warum, verdammt noch mal?“, unterbricht er grob.
Ich sehe, dass er die Fäuste geballt hat. Ist das wieder die Nummer, in der er die Stimme seines Vaters hört und gleich abhaut, damit er nicht handgreiflich wird? Manchmal wird mir mulmig mit ihm. Aber ich kann hier nicht nachgeben, es geht einfach nicht. „Weil es dir nicht gehört“, sage ich.
Ich habe dafür hinter der Brottheke gestanden und mir die Finger an den scheiß-heißen Blechen verbrannt!“, er wird immer lauter, „Versuch mal, Bass zu spielen mit Brandblasen an den Fingern! Also gehört es mir!!“
Meine Geduld ist am Ende. „Muss ich erst serbisch lernen, damit du mich verstehst? Wenn ich noch lange fast die ganze Miete alleine zahlen muss, steht spätestens im Sommer der nächste Umzug an!“
„Ups“, macht er ernüchtert und deutlich leiser. „Sind wir pleite?“
„Bis jetzt nicht, aber ich glaube, es liegt an dir, dass es nicht dazu kommt.“ Ich nehme mein Werkzeug und arbeite weiter, damit jeder sieht, dass diese Diskussion beendet ist.
Miloš verlässt den Raum und ich höre, dass er auf die Terrasse geht. Nach einer Weile kocht er Kaffee, schaut nach meinen Fortschritten und verschwindet wieder nach draußen.

Als ich endlich fertig bin mit dem Flechtwerk, hole ich mir den restlichen Kaffee.
Miloš hat von draußen gehört, dass ich in der Küche bin und ruft nach mir.
Ich öffne die Terrassentür, aber ich mag nicht bei ihm sitzen. Mir ist es zu kalt.
„Es tut mir leid. Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass du die ganze Zeit viel mehr Geld für die WG ausgibst als ich.“
„Schon okay“, mache ich. Zu mehr Erkenntnis hat er nicht gefunden? Oh je. Ich ziehe die Tür wieder hinter mir ins Schloss. Ich habe die Klinke noch in der Hand, als Miloš mir schon folgt. „Warte doch mal.“
„Worauf?“
„Wenn wir ein gemeinsames Konto haben, wirst du dein eigenes behalten?“
Zeichen und Wunder! „Können wir so machen, müssen wir aber nicht.“
„Und das gemeinsame Konto ist nur für Miete und Essen?“
„Kann sein, muss aber nicht.“
„Kannst du mal ein bisschen präziser antworten?“

441

Ich bin im dritten Versuch meiner Wäscheleinenflechterei, als er wieder im Wohnraum erscheint. „Freitag gehe ich kellnern“, informiert er.
„Hast du da frei?“
„Nein, ich arbeite erst ab dreizehn Uhr. Die Kellnerei ist bei einem Empfang im Rathaus in Alkmaar, das geht von zehn bis zwölf. Ich habe auch gleich Lale angerufen, falls ich etwas später komme, weiß sie schon Bescheid.“
„Hat sie was gesagt wegen dem Sofa?“
„Wegen des Sofas?“, korrigiert er meine Grammatik, „Nein, hat sie nicht.“
Zoran hat recht. „Serbischer Schnösel.“
„Fischkopp.“
Zoran hat doppelt Recht! „Warst du heute nicht laufen?“
„Doch, warum fragst du?“
„Geh, lauf noch eine Runde. Du bist ja nicht auszuhalten.“(238)
„Darf ich segeln?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil du nicht durch die Grachten und die Buitensluis kommst, ohne die Kaap Hoorn und mindestens ein anderes Schiff zu versenken.“
„Aber wenn du das nächste Mal segelst, darf ich wieder ans Steuer, ja?“
Ich verkneife mir die Korrektur, denn er darf ans Ruder und nicht ans Steuer – die Kaap Hoorn hat keins. „Ja, aber nicht heute. Heute bau ich dir ein Sofa und jetzt verschwinde.“
Dass er auf dem Weg nach draußen im Bad Halt macht, die Waschmaschine ausräumt und sogar den Hocker über die Fliesen schiebt, um an die oberen Leinen zu gelangen, stimmt mich wieder milde.

„Amalia sagt, wenn ich dienstags bei Theodorus bin und dir mittwochs auf die Nerven gehe, liegt das nicht daran, dass mir ein Pups quer sitzt oder du außergewöhnlich empfindlich bist“, gibt er bekannt, als er eine halbe Stunde später wieder da ist. „Sondern es liegt daran, dass bei Seelsorge Emotionen aufgewirbelt werden, auch wenn man es nicht merkt. Und die müssen irgendwo hin, sagt sie.“
„So wahnsinnig neu ist die Erkenntnis nicht.“
„Warum hast du es mir dann nicht gesagt?“
„Konnte ich ahnen, dass dir mal kein Pups quer sitzt?“, rechtfertige ich mich.
„Du tust ja so, als würde mir ständig was quer sitzen.“
„Hat Theodorus dir nicht gesagt, dass Seelsorge Nebenwirkungen haben kann?“ Er schüttelt den Kopf und ich rede gleich weiter: „Tja, vielleicht weil die Nebenwirkungen bei jedem Menschen anders aussehen. Jedenfalls freut es mich, dass du deine Nebenwirkungen jetzt kennst.“
„Sie hat auch gesagt, dass es ungeschickt ist, erst zur Seelsorge und dann zur Arbeit zu gehen. Ich werde Theodorus fragen, ob er mittwochs früh Zeit für mich hat.“
Diese Amalia ist eine außergewöhnlich weise Frau!
„Vielleicht wollen wir ja auch eines Tages wieder proben am Dienstagabend“, fügt er an. „Und übrigens würde ich gerne mit dir zusammen Sport machen. Ich weiß nur nicht, welchen Sport du gerne machst.“
„Ist dir etwa langweilig?“
„Nein, ich habe endlich genug Geld, um noch andere Dinge zu tun als zuhause zu sitzen und zu lesen oder alleine durch die Gegend zu rennen. Also will ich was mit dir zusammen tun.“
Jetzt wird es schwierig. „Ach so. Da wird nichts draus.“
„Warum nicht, hast du keine Lust? Das kannst du mir ja auch einfach so sagen.“
Ich atme tief durch. „Es geht nicht um Lust, sondern um Notwendigkeiten.“
„Und das heißt?“, füllt er die Pause nach meinem Satz.

440

Mein Wunsch ist ihnen Befehl und ich befestige die Rückenlehne. Als es zurück auf dem Boden der Tatsachen angelangt ist, beginne ich das erste Probesitzen.
Mit einem erleichterten „Wir haben ein Sofa!“ lässt Miloš sich neben mich plumpsen.
Krachend gibt die Sitzfläche nach.
Zoran gackert los.
Miloš verpasst ihm ein paar derbe Worte und einen finsteren Blick, springt aus den Trümmern auf und tritt wütend dagegen. „Die ganze [drei serbische Wörter] umsonst!“
Ich halte ihm die Hand hin, „Hör auf zu randalieren und zieh mal an mir.“ Und übrigens: auf die Übersetzung verzichte ich! Als ich wieder auf meinen Füßen stehe, hebe ich die Polster an und besehe mir den Schaden. Die Sitzfläche besteht aus Latten, die in Plastikhalterungen stecken. Wie bei einem Lattenrost unterm Bett, nur kleiner. Die meisten Halterungen werden nie wieder etwas halten. Einige der Bruchstellen sind deutlich älter.(237) Die Hartfaserplatte taugt auch nur noch zum Wegwerfen. Das restliche Gestell ist aus Massivholz und wirkt sehr robust. Wenn ich die Sitzfläche mit Wäscheleine … hm, wie kriege ich die Halterungen ab?
„Kannst du das reparieren?“, unterbricht Zoran meine mit Tatendrang gefüllten Gedanken.
„Unter einer Bedingung.“
„Die wäre?“
„Du nimmst das mit der Frau zurück.“
„Was mit welcher Frau? He, Jeremy, in diesem Haushalt gibt es keine Frau. Miloš nervt mich oft mit seiner Klugscheißerei und den Wortspielen, die niemand versteht außer er selber, aber du bist ein wirklich sehr praktischer und vielseitig begabter Kerl. Ich staune immer, was du kannst. Besonders wenn es um Werkzeug geht“, lobt er mich, „Du hast es echt drauf. Hier die Ecke, da Holz, und drei Stunden später hat ein Zimmer den perfekten Einbauschrank!“
Diese Dachschrägenschränke haben es meinen werten Freunden wirklich angetan! Miloš tut allerdings alles dafür, meinen Ruhm zu mehren. Mit seinem Handy hat er Fotos von den Bauabschnitten gemacht und dem Zustand der Zimmer, bevor ich mit der Arbeit anfing. Und diese Fotos zeigt er überall rum.
„Das klingt gut. Mit dem Sofa befasse ich mich morgen. Erst muss ich Mommis Staubsauger ausleihen“, entlaste ich die labile Liste. „Und was ist mit dir, wolltest du nicht um acht in Hoorn sein? Das schaffst du nicht mehr!“
„Zoran nimmt mich mit. Gibt es etwas zu essen?“ Er ist schon auf dem Weg in die Küche.
„Butterbrote und Obst. Zum Kochen war keine Zeit. Bibi brauchte meine Hilfe.“
„Gibt es vielleicht doch eine Frau in diesem Haushalt?“, will Zoran interessiert wissen.
„Bibi wohnt nebenan. Verheiratet, drei Kinder“, verderbe ich ihm das Spekulieren.
Miloš ruft von nebenan: „Ich nehme was aus der Haushaltskasse.“
„Lass mir noch ein paar Euro übrig.“
„Haushaltskasse?! Gemessen daran, dass hier keine Frau wohnt, habt ihr ziemlich viel Pärchenkram in eurer WG.“
„Bei uns kannst du noch was lernen für deine Ehe. Eine Haushaltskasse ist wahnsinnig praktisch, vorausgesetzt, es ist was drin.“
Miloš kommt aus der Küche und klimpert mit dem Kleingeld in seiner Hosentasche. In der anderen Hand hat er zwei Äpfel. „Können wir los?“

Beim Staubsaugen finde ich an der Rückseite der Polster Reißverschlüsse. Aha, man kann die Bezüge abnehmen!
Das heißt, man kann sie auch in die Waschmaschine stecken.
Und dort kann man sie färben! Welche Farbe gemischt mit Blau ergibt eine, die eher in unser grünes Konzept passt? Gelb. Oh, bloß nicht! Nehme ich zuviel, wird es türkis. Nehme ich zuwenig, tut sich nichts. Wird die Farbe nicht gleichmäßig aufgenommen, sieht es aus wie verschütteter Morgenurin.
Lieber färbe ich mit schwarz oder dunkelgrau, das deckt das intensive Blau besser ab. Und die Flecken, sofern sie beim Waschen nicht rausgehen.
Schwarze Textilfarbe müsste irgendwo sein, ich habe sie beim Einpacken in der alten Wohnung in der Hand gehabt. Weshalb hatte ich sie gekauft? … Genau, ich wollte ein paar alte verwaschene Jeans neu einfärben.


hundertsechsunddreißigstes Kapitel

Während die Sofabezüge in der Waschmaschine sind (und mit ihnen eine Portion Textilfarbe sowie zwei Hosen von mir und eine von Miloš), entferne ich die restlichen Plastikteile, schleife glatt, was Lales Katzen mit ihren Krallen verunstaltet haben und leime, was neuen Leim braucht. Man kann einem Möbelstück nichts besseres tun als so eine gründliche Inspektion. Schließlich sollen weitere Abstürze in Zukunft ausbleiben!
Pünktlich zum Ende meiner Arbeiten ist Miloš zurück. Er war im Baumarkt und hat einen Strang farbloser Wäscheleine gekauft und ein paar andere Kleinigkeiten, die ich brauchte. Wenn er sich Hoffnungen macht, dass ich durch das Zusammenleben mit ihm osteuropäischer werde, darf ich mir ja auch Hoffnungen machen, dass er durch regelmäßigen Aufenthalt im Baumarkt ein bisschen handwerklicher wird.
„Du sollst übrigens Merle anrufen“, richte ich aus.
„Warum hat sie mich nicht mobil angerufen?“
„Weil im Baumarkt kein Empfang ist.“
„Woher willst du das wissen, du Mobilfunkexperte?“
„Weil wir da die Tapetenstreifen ausgesucht haben und Zoran wollte sie anrufen und ist auch nicht durchgekommen. Willst du weiter diskutieren oder rufst du sie einfach an?“
„Ts“, macht er, nimmt das Telefon von der Ladestation und geht in sein Zimmer.

439

Ich untersuche die verklemmte Situation. Das Sofa scheint unschuldig, eher bietet die Tür das Hindernis. Sie hat ja das kleine Fenster, und dessen äußerer Rahmen ist im Weg. Weiß der Himmel, wie sie auf dem Hinweg dran vorbei gekommen sind, jetzt hängen sie fest. Das gibt’s doch gar nicht! Sämtliche Erfahrungen aus sämtlichen Umzügen sprechen dagegen. Man könnte die Tür weiter auf … nein, das geht nicht, da ist die Wand. Man hätte sie vorher aushängen können, aber vorher ist vorbei. „Wie sieht es denn mit Einzelteilen aus? Kann man irgendwas abschrauben?“
„Äh … das haben wir nicht versucht“, gibt Zoran zu. „Ist aber ziemlich schwierig, wie willst du da jetzt noch drankommen?“
„Wartet mal, ich hole Werkzeug.“ Die Haustür ist ja nicht die einzige Tür, durch die es muss, denn es soll nicht im Flur stehen. Und der Rahmen der Wohnzimmertür ist schmaler.
Im Weggehen höre ich Miloš andächtig sagen: „Handwerker sind toll.“
Zoran begehrt auf: „Ich bin auch Handwerker.“
„Ja, aber mehr mit Hand als mit Werk.“
„Ist das wieder eins von deinen intellektuellen Wortspielen?“
„Quatsch. Du arbeitest mehr mit den Händen als mit Werkzeug, also ist dein Handwerk mehr Hand als Werk.“
„Ich versteh deine Wortspiele trotzdem nicht.“
Ich justiere meinen kleinen Baustrahler in Fußbodenhöhe auf seinem Stativ, schließe ihn an und gleich herrscht Stadionatmosphäre im Flur.
„Aber es ist ja gar kein Wortspiel, ich habe es doch erklärt, du Knoblauchfresser!“
„Aha, sind wir wieder auf der Ebene angekommen? Serbischer Schnösel.“ Miloš kontert etwas heimatsprachiges. Was auch immer es ist, Zoran lässt es sich nicht gefallen.
„Klappe halten, Sofa hochheben“, gehe ich dazwischen(236) und robbe unter das sperrige Möbelstück. Auch hier sind reichlich Staubflocken und Katzenhaare vorhanden. Eine Hartfaserplatte verhindert den Blick auf die Sofapolster. Umso besser, dann staubt es nicht so fürchterlich. Hinten links erscheint die Notiz: Staubsauger bei Mommi ausleihen! Dann verblasst die Liste, denn einer der selten Momente völliger Übereinstimmung ist eingetreten. Ich habe nur einen Maulschlüssel mitgenommen, und der hat genau die richtige Größe. M8, wie lieb’ ich dich! „Höher!“, fordere ich.
„Was tust du da eigentlich?“, will Miloš wissen. „Ich komme mir ein bisschen blöd vor hier draußen, besonders, weil jetzt auch jeder in der Straße sehen kann, dass unsere Haustür nicht mehr zu geht.“
„Mach dir nix draus. Es dauert nicht mehr lange, dann – aha!“
„Was ist los?“
„Die Rücklehne ist los. Jetzt könnt ihr es steiler kippen.“ Ich habe es kaum gesagt, da kommt Bewegung in die Sache. „Halt, lasst mich erst aufstehen!“ Aber zu spät, Zoran geht schon vorwärts, Miloš muss folgen und tritt glücklicherweise nicht auf mich. Problemlos schaffen sie es auch durch die Wohnzimmertür.
Ich schließe die Haustür, lösche das Flutlicht und folge den beiden.
Nachdenklich betrachte ich den neuen Hausgenossen, der nun breit und mittelblau vor der schilfgrünen Wand steht. „Die türkische Tulpe mag also blaue Sofas. Hast du dir mal überlegt, was unsere Einrichtungsfachfrau zu diesem Farbexzess sagen wird?“
„Das ist mir ist egal. Ich will darauf liegen und pennen. Dann habe ich die Augen zu.“
„Das wird sie überzeugen. Wir könnten Marjorie fragen, ob sie uns einen Überwurf näht. Dann sieht man auch die Flecken hier auf der Sitzfläche nicht mehr.“
Zoran schüttelt den Kopf. „In dieser Beziehung bist eindeutig du die Frau, Jeremy.“
Das war jetzt kein Kompliment, oder? „Immerhin kann ich mit Werkzeug umgehen. Hebt das Dings noch mal hoch.“

438

„Also, wenn das nicht zu knapp ist, Arjen und ich wären am Samstag bei Freunden eingeladen, aber sie mussten kurzfristig absagen. Das bestätigt deine These, wir hatten den Termin nämlich schon vor Weihnachten vereinbart.“
„Ich gehe gerade mal in den Kalender gucken, bin gleich wieder da.“ Ich will zur Haustür, aber Bibi sagt: „Geh doch durch den Garten und steig über den Zaun.“

Ich brauche keine zwei Minuten, dann bin ich wieder in ihrer Küche. „Samstag geht klar. Miloš muss bis sieben arbeiten, aber weitere Termine gibt es nicht.“
„Was arbeitet er?“
„Er hat vor einer Woche bei „Stevens broodjes“ in Barenkarspel angefangen.“
„Stimmt!“, fällt ihr auf. „Ich habe da gestern in der Mittagspause Brot gekauft und er kam mir gleich so bekannt vor. Aber ich hätte nicht sagen können, woher.“
„Komisch, dass er dich nicht erkannt hat. Sein Gedächtnis ist sonst sehr präzise.“
„Nein, wir haben nicht miteinander gesprochen. Er war mit den Backblechen zugange und seine Kollegin hat bedient.“
„Was tust du in Barenkarspel?“
„Ich arbeite im Büro des Dachdeckerbetriebs, bei dem Arjen auch angestellt ist.“
„Gut zu wissen“, grinse ich. „Dachdecker kann man immer gebrauchen.“
„Warum, braucht ihr einen?“
„Die Frage gebe ich ungeprüft zurück: brauchen wir einen? Darüber haben wir mit Herrn de Vos nicht gesprochen, ich hoffe doch stark, dass das Dach in Ordnung ist!“
„Ob am Dach was zu machen ist, musst du Arjen fragen, er ist der Fachmann. Die Themenauswahl für Samstag ist wohl gerettet“, lacht sie.
„Hurra, wir müssen nicht die ganze Zeit schweigend herumsitzen“, lache ich mit.


hundertfünfunddreißigstes Kapitel

Als ich mich kurz darauf verabschiedet habe und durch den Garten heim gegangen bin(235), drückt etwas von innen gegen die Terrassentür. Durch das Fenster ist niemand zu sehen, deswegen drücke ich gegen den Widerstand. Als die Tür auf ist, komme ich mir vor wie im Windkanal. Warum stürmt es bei uns im Haus derart? Ich schließe die Tür, das heißt, das war der Plan, aber mit einem Knallen erledigt das der Wind.
„Hallo, jemand zuhause?“, rufe ich probeweise.
„Ja, komm her und hilf uns!“, tönt es von vorne.
Im Flur finde ich Zoran und ein halbes Sofa. Draußen auf der Straße ist die andere Hälfte und Miloš. Gut, dass es heute nicht regnet.
„Wo warst du?“, will er wissen.
„Ich hab unsere Nachbarn für Samstag zum Essen eingeladen. Woher habt ihr das Sofa?“ Es besteht aus einem klobigen Gestell aus hellem Holz (Birke, nehme ich an) und darauf blauen Polstern, die nach Staub und Katze riechen.
„Lale hat sich ein neues gekauft und wollte das hier schon wegwerfen, aber sie hat mir zum Glück davon erzählt.“
„Was hat es gekostet?“
„Nichts, wir mussten es nur heute abholen.“
„Ich find es ziemlich unpraktisch, wenn die Tür ab jetzt immer offen steht.“
„Ha, ha, ha! Hätte es sich nicht verkantet, wären wir längst drin!“
„Oder wieder draußen und hätten es anders versucht“, ergänzt Zoran. „Deswegen ist es gut, dass du gerade kommst, du hast zwei Hände frei und bestimmt eine Idee.“

437

„Wenn du seit dem Auftritt in Almere dafür gebetet hast, dass er das tut, dann hast du vermutlich unter großem Druck gestanden. Du hast ja gespürt, dass er schwere Erinnerungen mit sich herumträgt. Nach dem halben Jahr warst du an den Druck gewöhnt. Als er auf einmal weg war, hat das diese starke Reaktion ausgelöst. So könnte ich es mir jedenfalls vorstellen.“
„Hm. Das klingt logisch.“ Ich schaue aus dem Fenster und prüfe in mir drin, ob die Antwort auch wirklich passt. Dabei fällt mir auf: „Da ist noch was, was ich nicht verstehe.“
„Sags mir.“
„Nachdem ich das gesagt hatte, dass ich schon so lange dafür gebetet habe, hat Theodorus mir einen Handkuss gegeben. Aber nicht auf den Handrücken, sondern in die Handfläche.“
„Könnte es eine symbolische Tat gewesen sein?“
„Na klar, vor allem weil es ja die Innenseite der Hand war. Ich habe schon alle Handküsse und Handflächen in der Bibel abgeklappert, aber außer Jesus hatte ja keiner was mit der Handfläche zu tun. Und ich glaube nicht, dass Theodorus mich mit Jesus vergleichen will. Das wäre ein bisschen übertrieben, ich hab ja nur für Miloš gebetet und nichts geopfert. Aber ich komm trotzdem nicht dahinter, was er damit gemeint hat.“
„Tja“, macht sie. „Dann kann ich dir auch nicht helfen.“

Als ich Dienstags nach Hause komme, treffe ich die Nachbarin zur Rechten(234) in ihrer Garageneinfahrt. Sie steht bei ihrem Auto, dessen Kofferraumklappe offen ist.
„Dich schickt der Himmel!“, ruft sie mir entgegen.
„Das hört man gern“, erwidere ich. „Kann ich helfen?“
„Das wäre total lieb. Ich war nach der Arbeit einkaufen und während der Fahrt haben sich die Kisten gegenseitig verkeilt, sodass ich jetzt keine mehr rauskriege.“
Ich bringe das Fahrrad hinters Haus und werfe einen Blick ins Wageninnere. Zwei Klappkisten voller Lebensmittel und ein Bierkasten teilen sich den engen Raum auf optimale Weise. Motiviert ziehe ich an den Griffen, doch es bewegt sich nichts. Das kann aber auch am Gewicht des Inhalts liegen. „Ich würde die Kisten ausräumen und es dann noch mal versuchen. Wenn die nicht mehr so viel wiegen, ist es bestimmt einfacher.“
„Darauf hätte ich selber kommen können“, lacht sie. „Übrigens bin ich die Bibi.“ Sie streckt mir ihre Hand hin.
„Jeremy“, erwidere ich. „Wir wollten uns auch schon seit Neujahr vorstellen, aber entweder hatten wir keine Zeit oder ihr wart nicht da und so weiter.“
Bibi hat eine leere Kiste aus dem Hausflur geholt, balanciert sie auf der Kofferraumkante und packt die Lebensmittel um. „Gott, ist die schwer“, schnauft sie, als sie sie anheben will.
„Lass mich mal“, erbiete ich und übernehme die Plastikgriffe. „Wow. Und die hast du selber ins Auto gehoben?“
„Nein“, lacht sie auf. „Ich habe sie im Auto aufgeklappt und dann eingeladen.“ Mir voraus geht sie ins Haus und lotst mich in die Küche. Als ich die Kiste mit Schwung auf den Tisch wuchte, zischt eine schwarze Katze beleidigt fauchend ins Nebenzimmer.
„Das ist unser Kater. Er liegt gerne auf einem Stuhl unterm Tisch. Da kriegt er alles mit und ist doch unsichtbar. Die Mädchen haben ihn Herr Kater genannt, nicht sehr originell, aber er hört drauf“, erzählt sie. „Ich hoffe, das ist nicht schlimm, dass Vicky euch zu ihren Lieblingsnachbarn auserkoren hat und ständig an eurem Alltag teilhaben will.“
„Nein, sie ist lustig. Die kann ruhig weiter kommen.“
„Wie viel Geld kriegst du von mir für die ganzen Mahlzeiten, die sie bei euch verfuttert?“
„Ich bitte dich! Sie tut uns auch manchen Gefallen, deckt den Tisch oder wäscht zusammen mit Miloš ab, deswegen sind wir quitt.“
„Aber wenn sie frech wird oder euch auf die Nerven geht, schickt ihr sie bitte heim, ja?“
„Tun wir. Auch wenn das bisher nicht nötig war. Apropos essen: kommt doch mal zum Essen. Also nur du und dein Mann. Dann können wir uns ein bisschen besser kennen lernen.“
„Danke, das ist aber lieb!“, freut sie sich. „Und wann dürfen wir kommen?“
„Keine Ahnung. Erfahrungsgemäß trifft man sich nie, wenn man es zu lang im Voraus plant, da kommt immer was dazwischen. Schnell geplant ist schnell getroffen. Sag mal was.“

436

„Wieso überrascht dich – Jeremy, du heulst ja“, stellt er erschrocken fest, „Was ist mit dir?“
Ich muss erst Luft holen. „Seit du mir von Milan erzählt hast, bete ich, dass du dir einen Seelsorger suchst. Aber ich wusste nie, wie … ich wollte keinen Streit deswegen. Gefühle und Vergangenheit und so sind ja bei dir nicht so … ähm … das Zeug, über das du gerne redest.“
Theodorus beendet mein Gestammel, indem er mich lachend in den Arm nimmt, meine Rechte fasst und die Innenseite mit den Lippen berührt.
„Hä?“, mache ich verwirrt.
Miloš erklärt: „Als wir den schlimmen Streit hatten, war ich bei Amalia und habe sie gefragt, wie ich die Stimme von meinem Vater in meinem Kopf loswerden kann. Sie hat gesagt, am besten kann da ein Seelsorger helfen. Ich dachte, sie könnte das machen, aber sie hat mir Theodorus’ Telefonnummer gegeben, weil er sich damit besser auskennt. Er hatte nicht viel Zeit, aber er hat versprochen, mich an einen Kollegen zu vermitteln.“
Theodorus schließt sich an: „Leider konnte ich bisher niemanden finden. Alle Seelsorger in dem Netzwerk, für das ich auch arbeite, haben im Moment volle Terminpläne und Wartelisten von bis zu acht Monaten. Heute Nacht haben wir vereinbart, dass wir diese Arbeit gemeinsam angehen wollen.“
Mir bleibt fast der Mund offen stehen. Theodorus bietet meinem Freund an, sein Seelsorger zu werden. Das tut er nicht, weil er so viel Zeit hat; im Gegenteil, er ist ja oft unterwegs. Welches Potenzial hat er in Miloš erkannt, dass er ihm dieses Vorrecht einräumt? Und ob dem klar ist, was für eine Ehre das ist? Wie viele Leute sich die Finger danach lecken würden, Theodorus regelmäßig eine Stunde oder zwei nur für sich zu haben?
Siehst du, mein Freund. Du hast alles richtig gemacht.

Ziemlich bald nach Ende unseres Frühstücks kommt der andere Assistent von Theodorus und holt ihn zu einer Predigt ab. Immerhin ist ja heute Sonntag. Weil Miloš immer noch nicht ganz fit wirkt, klemme ich mich hinters Steuer, aber wir sind kaum ein paar Straßen gefahren, als er sagt: „Halt bitte an. Ich kann nicht stillsitzen, während du dem Auto Gewalt antust.“
„Ich tu ihm doch keine Gewalt an, es ist eine olle Kiste, die komisch fährt!“
„Noch schlimmer. Du merkst es nicht einmal. Hopp, steig aus und lass mich da hin.“
Ach, macht mich das froh. Endlich klingt mein bester Freund wieder so, wie er klingen muss. Ich verlasse das Fahrzeug, er rutscht vom Beifahrersitz hinters Lenkrad und ich steige an der anderen Seite ein.
Die olle Kiste erkennt ihn sofort wieder und hört auf zu quietschen, zu knirschen und zu bocken. Seltsames Ding!
An der Bäckerei fährt er den Transporter rückwärts an die Rampe(233), wir laden unsere Sachen aus und schleppen sie nach oben, fahren dann zum Duschen nach Hause und danach ist es schon an der Zeit, sich bei Merle einzufinden.


hundertvierunddreißigstes Kapitel

Nach dem reichlichen Essen bin ich zu Mommi gefahren. Miloš wollte natürlich mitkommen, aber ich habe ihn gebeten, mich alleine zu lassen. Der Besuch bei Theodorus war eine emotionale Achterbahnfahrt und ich muss mich in aller Ruhe davon erholen. Fast alles, was er sagt und tut, hat eine Bedeutung. Ich möchte gerne alles aufnehmen, und dafür muss ich die Begegnung systematisch durcharbeiten. Was hat er gesagt? Wie dabei geguckt? Was hat er in welchem Kontext getan? Was will er mir mitteilen?
Mommi ist Mommi. Sie hört einfach nur zu und als ich fertig bin, stellt sie ihre Fragen, eine nach der anderen, und ich habe Zeit zu reflektieren und Antworten zu finden.
Die schwierigste und zugleich interessanteste Frage bleibt am Ende übrig: „Warum fühlte ich mich so im freien Fall, als Miloš gesagt hat, dass er Seelsorge in Anspruch nimmt?“

435

Nach dieser unruhigen Nacht werde ich von Theodorus geweckt.
„Aufstehen, Junge. Es gibt Frühstück.“
Er sieht aus wie immer, als mache es ihm nichts aus, mitten in der Nacht aus dem Bett geholt zu werden und dann eine Stunde oder länger seiner nicht fassbaren Arbeit nachzugehen. „Wie geht’s Miloš?“, will ich wissen und kratze mich am Kinn. Bei nächster Gelegenheit muss ich mal den Rasierer besuchen.
„Schau ihn dir selbst an.“
In der kleinen Küche sitzt mein Freund schon am Tisch und hat einen Becher Kaffee vor sich. Er ist blass im Gesicht, hat rote Augen, seine Stimme ist heiser, aber in seinem Blick ist keine Angst mehr. Er guckt so befreit und friedlich wie damals im Sommer in Workum.
„Du bist wieder gut drauf“, stelle ich erleichtert fest.
„Ja. Danke.“
Danke wofür, will ich fragen, aber da kommt der Gastgeber herein und nach dem Tischgebet fangen wir an zu essen. Miloš langt zu, als wäre er einen Marathon gelaufen.

Irgendwann stelle ich die Frage, die ich mich ungefähr schon seit gestern Abend in Amstelveen beschäftigt. „Was war eigentlich los? Und was habt ihr hier gemacht?“
Theodorus lächelt. „Dein Verdacht mit der geistigen Situation war richtig. Für dich sind solche Orte unangenehm, hindern dich vielleicht am freien Durchatmen–“
„Stimmt“, unterbreche ich unwillkürlich.
„Aber mehr machen sie nicht mit dir. Außerdem kennst du deinen Gott und weißt, dass er stärker ist als alles, was die sichtbare und unsichtbare Welt zu bieten hat. Miloš ist noch nicht so weit. Die Gegenseite hat ihn so stark einschüchtern können, bis er nicht mal mehr sagen konnte, wovor er solche Angst hat. Thomas und ich haben heute Nacht die alten Herrschaftsansprüche zerbrochen. Das war ein harter Kampf. Aber wir haben gesiegt, wir drei. Miloš war sehr tapfer.“
Ein Kampf? Habe ich mir das Geschrei von letzter Nacht vielleicht doch nicht eingebildet?

Nach ein paar stillen Minuten sagt er: „Jeremy Willem.“
„Ja.“
„Habe ich dir schon gesagt, dass du gestern Nacht alles richtig gemacht hast?“
„Ähm … nein“, mache ich skeptisch. Das mit „alles richtig“ kann man auch anders sehen. Wenn ich Miloš gleich nach dem Auftritt hergebracht hätte, wären ihm zwei Stunden Angst erspart geblieben.
Er schaut mich an. „Ihr seid vorher woanders hingefahren und dann sah es aus, als sei es die falsche Entscheidung gewesen und du hast dich schuldig gefühlt. Geschämt hast du dich, weil du die Situation falsch eingeschätzt hast. Dann hast du deinen Freund hierher gebracht. Ich sage dir, ihr hättet hier niemanden angetroffen, wenn ihr direkt gekommen wärt.“
„Oh.“
„Lerne, getroffene Entscheidungen abzuhaken. Akzeptiere, dass du nicht perfekt bist und deswegen keine perfekten Entscheidungen treffen kannst.“ Er nimmt einen kleinen roten Terminkalender, blättert ihn auf und fragt: „Miloš. Was machst du am Dienstagabend?“
„Da ist Bandprobe … aber ich glaube, die kann ich sausen lassen. Ohne Lisanne hat das keinen großen Wert. Um wie viel Uhr?“ Er zückt das zerlesene Heft, das er immer dabei hat und den Bleistift. Der ist kürzer als sein halber Zeigefinger.
„Um acht?“
„Gut.“ Er notiert den Termin.
„Wieso trefft ihr euch?“, frage ich.
Als sei es das normalste der Welt, sagt mein Freund: „Zur Seelsorge.“
„Zur Seelsorge?!“ Kein Boden unter den Füßen. Freier Fall. Alles wirbelt durcheinander und mir schießen die Tränen in die Augen.