30. November 2015

302

„Habe ich je behauptet, ich würde ihn verstehen? Im Übrigen kenne ich noch mehr Leute, die sich hartnäckig weigern, mit so einem Gerät umzugehen.“
Ich erkenne die Spitze. „Im Gegensatz zu deinem Vater hab ich dir immerhin so ein Teil geschenkt. Da könntest du dankbar sein.“
„Bin ich, bin ich. Immer wenn ich es anfasse, habe ich gute Gedanken an dich. Das kann nicht jeder von sich sagen.“
„Möglich“, mutmaße ich. „Jetzt könntest du mir sagen, was dein Vater von dir wollte.“
Kopfschüttelnd verzieht er sich in die Küche.
Lisanne erklärt: „Seine Eltern werden am kommenden Freitag das Land verlassen. Also muss die Kusturica-Abschiedsvorstellung organisiert werden: Montag bis Donnerstag geht Miloš mit ihnen zu den Ämtern und in der restlichen Zeit hilft er beim Einpacken und Aufräumen. Sie treffen den Bekannten am Freitagnachmittag in Alkmaar und er bringt sie hin. Das war im Groben der Inhalt des Telefonats.“
Weil sie neben sich aufs Sofa klopft, lasse ich mich nieder, statt beim Tischdecken zu helfen. „Hat er dir das gesagt oder kannst du so gut serbisch, dass du das verstanden hast?“
„Serbokroatisch“, antwortet Miloš an ihrer Stelle und mit so weicher Stimme, dass ich aufschaue.
Moo…oo…ment mal. Gestern Abend noch hat er mir überaus deutlich klar gemacht, dass zwischen ihnen nur tiefe Verbundenheit ist. Und jetzt guckt er sie an, als wenn … Außerdem hat sie serbokroatisch gelernt!(151) Das ist nicht gerade Fremdsprache Nummer Eins, wenn man hier wohnt oder wie Lisanne in der Personalabteilung eines Großhandels für Regalsysteme arbeitet. Was also …?!
„Miteinander reden sie zu schnell, dann bleibt nur hier und da ein Wort hängen, außerdem hört man ja nur die Hälfte von so einem Gespräch. Aber hinterher hat er es mir noch einmal aufgesagt und da habe ich fast alles verstanden.“
Ich versuche den Wirrwarr vorsichtig aufzulösen. „Warum kannst du serbokroatisch?“
Kopfschüttelnd lächelt sie mich an. „Es ist die Herzenssprache meines besten Freundes.“
Überforderung baut sich vor mir auf wie eine Wand. „Wird das hier der Vorwurf, warum ich nicht längst damit angefangen habe?“
„Nein“, sagt sie und streichelt meinen Arm. „Ich weiß, dass du nicht gut Fremdsprachen lernen kannst. Es ist eine Gabe, dem einen fällt es leicht, dem anderen nicht.“
„Ach, du kannst das nicht gut?“, wundert Miloš sich. „Warum sagst du dann, dass es mit dem Intellekt zu tun hat?“
„Wann hab ich denn das gesagt?“
„Irgendwann vor dem Sommer. Da hast du mir erklärt, warum manche Kinder so lange brauchen, um die Sprache zu lernen. Schlaue Leute lernen leichter Sprachen und dumme brauchen länger. Wenn man das weiterdenkt, kommt man unausweichlich an den Punkt, warum ich so lange gebraucht habe, obwohl ich ja nicht blöd bin.“
Zu mehr als „Äähhh“ bin ich nicht in der Lage. Habe ich das wirklich gesagt? In welcher Phase von geistiger Umnachtung habe ich mich befunden anzudeuten, dass Miloš vielleicht dumm ist?
„Das würde ja heißen, dass es eine reine Kopfleistung“, fügt er an, aber ich unterbreche mit einer Art Hilfeschrei: „Darf ich bitte ungestört nachdenken?!“
„Schau mal nach dem Kaffee“, schickt Lisanne ihn aus dem Raum und verharrt schweigend neben mir.
Als meine Gedanken sortiert sind, ist mir klar, dass ich es mir sehr einfach gemacht habe mit den schlauen und dummen Leuten, und dass meine Äußerungen noch dazu ziemlich verletzend waren. Wenn es wirklich mit dem IQ zu tun hätte, könnte man anhand einfacher Messungen die Fähigkeit zum Spracherwerb feststellen und wer sich unterhalb eines gewissen Levels befindet, muss sich demnach keine Mühe mehr machen, weil er gar keine Chance hat.

Fußnoten 151 - 200

151 Was war noch gleich der Unterschied zwischen serbisch und serbokroatisch?
152 man sagt ja immer, dass sich Gegensätze anziehen, aber das ist nicht alles. In Miloš’ und meinem speziellen Fall kommt hinzu, dass wir die Macken des Anderen als Ausgleich zu den eigenen verstehen. So hilft jeder dem anderen, alltagstauglicher zu werden. Natürlich ist es auch herausfordernd, zum Beispiel wenn er das Besteck fast mit dem Geodreieck um die Teller gruppiert.
153 Das ist das erste Mal in der Geschichte der Band, dass Merle versucht einen Streit zu schlichten. Sonst hat sie die Zankerei nur immer angefangen.
154 das sagt Miloš, der das beurteilen kann.
155 um nicht jedem Menschen einen Schrecken einzujagen, trägt er seine Sonnenbrille und beabsichtigt das auch heute Abend auf der Bühne zu tun
156 da sag noch mal einer, wir Niederländer seien so ein entspanntes Volk, zum Beispiel im Vergleich zu den Deutschen, bei denen alles bis ins Kleinste reguliert wird! Ausnahmen bestätigen die Regel.
157 ich möchte nicht wissen, wie lange es zwischen Becks und Pieter gebraucht hat
158 gerne auch mit mehr als hundert Prozent
159 eines Tages werde ich ein Experte auf dem Gebiet sein. Ganz sicher.
160 dafür fährt man von Sluis im Südwesten Zeelands nach Eemshaven im Nordosten Frieslands. Man kann aber auch entlang der Küste fahren. Das sind dann gut 500 wunderschöne Kilometer.
161 allerdings ist das nicht so viel geworden, wie ihm versprochen wurde. Zuerst sollte er ja neben dem Fahrdienst dem Hausmeister helfen, im Sportunterricht unterstützen und in Djamilas Gruppe übersetzen. Die beiden Mädchen kommen inzwischen gut mit und sind altersgerecht in Djamilas und Marijkes Gruppen untergebracht. Und vom Sportunterricht redet auch niemand mehr. Also mäht er Rasen und stutzt Hecken rund ums Gebäude, aber das macht nicht viel aus am Monatsende.
162 das heißt „gut, sehr gut“ und wird веома добрo geschrieben. Ich kann es allerdings nur aussprechen, wenn ich es in meinen lateinischen Buchstaben lese. Wenn ich die kyrillischen verwende, spreche ich es automatisch falsch aus, weil ich mit der Schrift immer durcheinander komme.
163 Ausgesprochen wird es Kuhk, und dabei kommt man ja nicht unbedingt als erstes auf die Idee, es könnte was mit osteuropäischer Kultur zu tun haben
164 entweder liegt es daran, dass er Shakira mag oder er ist einfach ein viel kulturellerer Typ als ich. Ich käme nie auf die Idee, mir Moderne Kunst anzugucken. Manchmal denk ich, diese Künstler haben einen an der Waffel. So ein Bild ist immer irgendwie Ausdruck der Seele, und wenn in der Seele so ein Chaos herrscht … na ja, das muss jeder selber wissen.
165 man stelle sich vor: inzwischen weiß ich meine Emailadresse auswendig!
166 Bassisten produzieren nicht nur Geräusche im langwelligen Dezibelbereich, sondern sie haben ganz sicher auch selber Wahrnehmungsorgane dafür, sodass sie Dinge hören, die ein normaler Mensch gar nicht hören kann. Gedanken zum Beispiel.
167 Zur gesundheitlich verträglichen Lebensrettung muss ich ihm bei Gelegenheit ein paar Worte sagen
168 Zufälligerweise weiß ich das, denn als er schon im Treppenhaus stand und auf mich wartete, bin ich noch mal durch die Wohnung gegangen. Das mache ich immer vorm Wegfahren, denn vielleicht bemerke ich ja Dinge, die ich zuvor vergessen habe. Da habe ich sie im Schuhregal stehen sehen.
169 Genau! Die Quadratur des Kreises. Aus dem Platzproblem einen Raumgewinn machen!
170 weil mir der Serbe näher ist als der Kroate, nenne ich sie auch serbokroatisch, was im Übrigen die gängige Variante ist.
171 das werden schreckliche Tage ohne meine Küche! Aber sie enthält fast die Hälfte meiner gesamten Habe, deswegen können wir sie nicht bis zum Schluss stehen lassen. Wochentags werden wir in der Schule essen, ansonsten hat Mommi zugesagt, für uns zu kochen.
172 ohne Deko, nicht mal eine Kerze gibt es
173 Wie hatte er das noch gegenüber Simone genannt – Prinzip von jugoslawische Warenumverteilung?
174 vielleicht fühlt er sich auch als Serbe, weil kein Kontakt zur kroatischen Verwandtschaft besteht?
175 eine Sternstunde der wohlformulierten Ausdrucksweise!
176 Da war mal was mit Stimmungsschwankungen, die ich nicht mehr an meinen Mitmenschen auslassen wollte. Und ich habs immer noch nicht gelernt.
177 außerdem ist die neue Wohnung ja auch noch nicht so richtig bezugsfertig
178 das ist gut, so werden auch diese Muskeln trainiert.
179 „Jesus liebt dich, vergiss das niemals, niemals, niemals!“
180 und genau das fällt mir schwer. Meist blockt er dann endgültig ab, ich bohre nach, übertrete seine Grenzen, bis er wütend wird. Wenn es dann endlich knallt, ist es für mich schon fast eine Erlösung, denn das heißt, dass es bis zum Friedensschluss nicht mehr lange dauert. Ich weiß, dass das nicht die beste Form der Konfliktbewältigung ist, aber im Moment ist es unsere einzige.
181 er macht nämlich keine Zuhör-Hms, also diese Geräusche, die Zustimmung signalisieren sollen oder was sonst gerade zum Kontext passt
182 Zoran und Miloš sind noch nicht wieder da
183 er ist halt ein gelehriger Typ
184 das ist wirklich krass. Er ist gebildet und unvoreingenommen, aber bei den Yugos haut er ein Vorurteil nach dem nächsten raus. Die Vojvodina-Serben sind Angeber, die Kroaten stinken nach Knoblauch, die Mazedonier ticken nicht sauber, die Kosovaren sind Faulpelze und Bettler und so weiter. Wahrscheinlich ist das einfach so mit den lieben Nachbarn. Wir Niederländer haben ja auch allerhand Ansichten über die Deutschen, Belgier und Briten, die nicht immer so ganz richtig sind.
185 wenn wir nicht in kurzer Zeit viel schaffen müssen, genehmigen wir uns zur Halbzeit eine Pause; wir sind ja nicht auf der Flucht
186 in Deutschland, habe ich gehört, ist der 6. Dezember zwar auch dem Heiligen Nikolaus gewidmet, aber er ist kein besonderer Feiertag. Das ist bei uns anders. An Sinterklaas steht das Land still. Geschäfte, Firmen und Ämter haben zu, in Krankenhäusern ist nur Notbetrieb, alle sind bei der Familie, man könnte sich (besonders am Abend des 5. Dezembers) sogar auf die Straße setzen – überfahren wird man sicher nicht. Keiner geht aus dem Haus, der nicht muss, und am Abend gibt es Geschenke! Am sechsten wird dann einfach weiter gefeiert, bzw. verdaut und gegen Nachmittag besinnt man sich darauf, dass es ja noch einen Alltag gibt.
187 bei van Hoorns ist Geschenke auspacken keine besinnliche Tätigkeit, das muss ruckzuck gehen!
188 er sagt immer, ich würde unter seinem Bett singen – warum muss er sein Bett auch genau da aufstellen, wo drunter im Bad die Dusche ist? Außerdem wollte er ja das hintere Zimmer! Selber schuld!
189 Sind seine Gefühle für Lisanne vielleicht nur ein Versuch gewesen, sich von Helena abzulenken? Aber ich blicke schon bei vielen seiner Gefühle nicht durch, da wird es zu kompliziert, auch noch die Ablenkungsmanöver einzukalkulieren.
190 Eben habe ich es noch zu Helena gesagt: Die Hälfte zwischen uns sind Gemeinsamkeiten. Hier ist eine. Er ist ihr, genau wie ich damals, schon mit der ersten sexuellen Begegnung verfallen. Ganz und gar. Danke Jesus, dass ich clean werden konnte!
191 die produziert er mit großer Begeisterung, und ich habe den Verdacht, dass er sie rechtwinklig anschneidet, damit Ordnung herrscht im Topf
192 ob das der Grund ist, warum er heute einen Pullover trägt?
193 zum Glück musste das nicht mit umziehen, weil es sich in der Schule befindet
194 ich dachte, man könnte nur gebrauchte Dinge ersteigern – so ein Flug ist ja weder gebraucht noch ein Ding
195 wenn ich mal gerade nicht glücklich bin mit meinem erfüllten Singledasein, hätte ich sie natürlich schon sehr gerne an meiner Seite, die Frau fürs Leben.
196 sozusagen ist es die Hemdschwelle
197 Es war die mütterliche Linie, die mir ihre Gene mit auf den Lebensweg gegeben hat, sonst könnte ich ja nicht Cokko ähneln
198 das ist die Bedeutung des Namens „Theodorus“.
199 als übernächstes könnte Lisanne schwanger werden und erst danach akzeptiere ich wieder eine Veränderung. Ich bin doch gerade erst umgezogen!
200 also fast den ganzen Winter

301

Als ich im Bett angekommen bin, fällt mir etwas ein: Was machen wir nächste Woche? Wir sind zum Auftritt in Hoorn gebucht! Ohne Lisanne lohnt es sich nicht, die Bühne zu betreten. Merle allein kriegt das Rhythmuskorsett nicht gefüllt. Und wenn jemand „Donnerdrummel“ bucht, soll er nicht nur „Donner…mel“ kriegen.
Noch etwas fällt mir ein: Wie wäre das, wenn Bernard für einen Auftritt einspringt? Wenn wir es klar definieren, muss sich niemand Hoffnungen machen – wobei ich befürchte, dass ich im Moment derjenige bin, der sich die meisten Hoffnungen macht, und sie werden sämtlich an Miloš’ Sturheitsfelsen zerschellen. Was hat er bloß gegen ihn, sie kennen sich doch gar nicht? Ich muss das morgen mal vorsichtig anbringen. Idealerweise, wenn Lisanne dabei ist. Da wird er die Dringlichkeit vielleicht eher begreifen.
Das dritte, das an diesem Abend fällt, bin ich, und zwar in den Tiefschlaf.

Morgens werde ich durch das Telefonklingeln bei meinen Verrichtungen im Bad gestört. Kommt da schon die Brötchenbestellung? Wollen sie sich nicht darauf verlassen, dass ich selber weiß, was lecker ist und was sie gerne essen?
„Ja“, sage ich in den Hörer.
Mein Gesprächspartner sagt etwas serbisches. Es ist vermutlich Herr Kusturica, der ebenso vermutlich seinen Sohn sprechen will.
Ich sage das, was ich für das serbische „Guten Tag“ halte. Wie mache ich ihm klar, dass er die Handynummer wählen soll? Wann hatte ich noch gleich den Entschluss gefasst, serbisch zu lernen? Und warum hatte ich nicht sofort damit angefangen?
Herr Kusturica unterbricht mich in den Gedanken, indem er etwas sagt und dann auflegt.
Also rufe ich bei Lisanne an. „Koevoet“, lacht sie ins Telefon.
„Guten Morgen liebe Lisanne“, eröffne ich. „Lachen ist gesund; du scheinst das wörtlich zu nehmen.“
„Selbst wenn man nicht gesund wird davon, hat man doch allemal eine gute Zeit gehabt“, gibt sie eine Bassistenweisheit(150) zum Besten. „Weshalb rufst du an?“
„Herr Kusturica hat gerade angerufen, Miloš müsste sich mal bei ihm melden.“
„Ich werds ihm sagen. Bis später!“

Ich verrichte meine übrigen Verrichtungen schneller und begebe mich zügig auf den Weg zum Bäcker, denn wer so früh schon mehrsprachig telefonieren muss, hat bestimmt Hunger.
Mit allerhand Leckereien stehe ich bald darauf bei Lisanne an der Tür und klingele.
Miloš öffnet mir und ich kann mich nicht länger beherrschen: „Und, was will dein Vater?“
„Guten Morgen, lieber Freund“, lacht er.
Ich verdrehe die Augen, sage „Guten Morgen“ und drücke ihm die Einkaufstasche in die Hand, um meine Schuhe auszuziehen. „Also, was will er?“
„Vielleicht solltest du doch allmählich mal mit dem Serbischlernen anfangen.“
„Selbst wenn ich es akzentfrei sprechen würde, hätte er mir bestimmt nicht gesagt, was er von dir will“, stelle ich in den Raum und folge ihm in Lisannes Wohnzimmer, wo sie schon mit hochgelegtem Gipsfuß sitzt und recht munter aussieht.
Wir begrüßen uns und während Miloš mit dem Einkauf in die Küche geht, kommt mir noch etwas in den Sinn: „Warum ruft er dich eigentlich nicht auf dem Handy an? Das wäre doch viel einfacher, dann müsste er nicht drauf hoffen, dass ich vielleicht richtig reagiere.“
„Er mag keine Handys. Deswegen ruft er mich nicht mobil an.“
„Aber das ist doch voll unlogisch! Wenn er dich da anruft, hat er ja gar nichts mit dem Gerät zu tun?“

300

Als wir wieder auf der Straße sind, frage ich: „Woher weißt du das alles, wie man mit Vermietern umgeht und ob die Miete gut ist und das alles?“
„Die meisten Vermieter ticken gleich. Und den Mietspiegel findest du im Internet.“ Er hält sich nicht länger damit auf: „Warum hast du die ganze Zeit schweigend daneben gestanden? Ich kam mir vor wie ein Alleinunterhalter.“
„Na ja, ich musste ja gar nichts sagen, weil du das schon alles gemacht hast. Das mit der Küche, dass sie mir zu klein ist und so.“
Er nimmt mir die Visitenkarte ab und steckt sie unter den Scheibenwischer des Autos.


vierundneunzigstes Kapitel

Später fahre ich zu Mommi und unterhalte mich eine Weile mit ihr, dann bin ich wieder am Visserdijk, allerdings dieses Mal wegen der Kaap Hoorn. Ich bin bestimmt zwei Wochen nicht gesegelt, und das im September! Der segellose Winter ist schon fast in Sichtweite! Da müsste ich eigentlich jede freie Minute auf dem Wasser verbringen.
Ich komme erst sehr spät abends heim. In der Küche liegt ein Zettel, der mich darüber informiert: „Ich bin bei Lisanne. Komm auch, wenn du Bock hast. Miloš.“(149)
Ob diese Nachricht generell gilt? Oder haben sie damit gerechnet, dass ich sie früher lesen würde? Um nicht vergebens durch die Stadt zu fahren, rufe ich lieber mal an.
Ziemlich schnell wird am gegenseitigen Ende der Leitung abgenommen. „Bei Koevoet“, sagt mein Mitbewohner.
„Bist du schon umgezogen oder sagst du mir wenigstens, was sie hat, das ich nicht habe?“, blödele ich.
„Hä?“, macht er.
„Sonst bist du nur an mein Telefon dran gegangen und jetzt tust du das bei Lisanne. Passt es dir nicht mehr bei mir? Wir hätten drüber reden können, weißt du.“
„Quatschkopf. Lisanne hat den Fuß gebrochen–“
„Wie ist denn das passiert?“, unterbreche ich.
„Sie ist auf der Arbeit mit einem Stapel Akten eine Treppe runter gegangen und hat die letzte Stufe übersehen, also sie dachte, sie wäre schon unten und ist dann schief aufgetreten. Weil keine einzige Freundin oder Merle oder ihr Bruder zu erreichen war und ihre Eltern in Urlaub sind, habe ich sie aus dem Krankenhaus abgeholt und nach Hause gebracht und kümmere mich jetzt um sie. Vielleicht könntest du ihr morgen was kochen, ich glaube nämlich nicht, dass sie gesünder wird, wenn ich das übernehme.“
„Jetzt also nicht mehr?“
„Rede bitte in kompletten Sätzen mit mir, dann verstehe ich, was du meinst“, bemängelt er.
Er sollte Lehrer werden. „Du hattest auf den Zettel hier in der Küche geschrieben, dass ich herkommen soll, wenn ich Bock habe. Soll ich das so verstehen, dass ich jetzt nicht mehr kommen soll?“, gebe ich mir Mühe, den Ansprüchen gerecht zu werden. Außerdem – wer hat gerade „Hä?“ gesagt? Das ist auch kein vollständiger Satz.
„Nein, das würde nichts bringen, sie schläft.“
„Und was machst du da, wenn sie schläft?“
„Das habe ich doch gesagt: ich kümmere mich um sie.“
„Während sie schläft!“, stelle ich fest. „Scheint so, dass es dir nicht besonders ernst damit war, ein Jahr lang Single zu sein.“
Zwischen uns entsteht eine sehr stille Pause, an deren Ende er unterkühlt sagt: „Lisanne ist meine beste Freundin und wenn sie Hilfe braucht, bin ich an ihrer Seite. Wenn sie mich bittet, die Nacht in ihrer Wohnung zu verbringen und gegen die Schmerzen in ihrem Fuß zu beten, habe ich keinen Gedanken an andere Dinge.“
Ich spüre, wie mir die Verlegenheit einen knallroten Kopf beschert. „Entschuldigung.“
„Akzeptiert. Kommst du morgen mit Frühstück?“
„Ja. Bis morgen.“
Ich habe fast aufgelegt, da sagt er: „Jeremy.“
„Ja?“
Er schnauft tief durch. „Verzeih du mir auch. Wenn einer was gegen mein Jahresprojekt sagt, verstehe ich das viel zu oft als persönlichen Angriff. Dabei ist das doch völlig normal, was du gedacht hast.“
„Ist gut“, will ich weitere Selbsterklärungen umgehen, „wir sehen uns morgen.“

299

Jetzt quetscht sich Herr Brouwer an uns allen vorbei und öffnet die Terrassentür. Wir folgen ihm nach draußen. Er erklärt, dass der Garten leider etwas verwildert ist, weil sie es körperlich nicht mehr schaffen, sich um ihn zu kümmern, was auch der Grund ihres Umzugs ist. Die Mädchen von nebenan jäten die Beete und mähen den Rasen, aber sie gehen ja zur Schule und haben ihr eigenes Leben, da wollen sie nicht zur Last fallen.
Außer bei Mommi habe ich nichts mit Gärten zu tun, daher glaube ich, dass er bei uns nicht ordentlicher aussehen würde. Der Garten ist wie das Haus eher lang als breit und hat drei Zugänge: den einen durch die Terrassentür, den zweiten durch das Gässchen neben dem Haus, das zur Straße führt. Und dann windet sich zwischen der Hinterseite der Häuserzeile und den angrenzenden Wiesen noch ein Trampelpfad her. Auf einer der Wiesen steht übrigens ein weißes Pony herum.
Die Karawane macht kehrt und Herr de Vos führt uns treppauf unters Dach. Dort sind zwei etwa gleich große Räume mit sehr viel Schrägfläche, im einen eine Mischung aus Rumpelkammer und Luuks Kinderzimmer, im anderen das Schlafzimmer des Ehepaars.
Beide haben in der Giebelwand ein Fenster, und zwei Dachfenster lassen zusätzlich Tageslicht herein.
Als wir wieder unten im Wohnzimmer angekommen sind, gibt uns der Vermieter eine genaue Aufschlüsselung von Miete, Nebenkosten und all den anderen Zahlen, die mich aber leider gar nicht mehr interessieren. Die Küche ist winzig, kleiner noch als meine jetzige! In diesem Haus kann ich nicht wohnen, Bad mit Fenster hin oder her.
„Und, was denken Sie? Wollen Sie das Haus mieten?“, will Herr de Vos wissen.
„Es ist hübsch“, sagt Miloš, was bei ihm wie „hubsch“ klingt. Das mit dem Umlaut kriegt er immer noch nicht hin. „Man müsste natürlich renovieren.“
„Natürlich müssen Sie das“, mischt Frau Brouwer sich ein, „wir haben über zwanzig Jahre hier gewohnt und das letzte Mal vor fünf Jahren neu gestrichen.“
„Sechs“, verbessert ihr Mann sie. „Und die Tapeten sind noch vom Vormieter.“
„Das stimmt nicht, Luuk hat doch tapeziert!“
„Aber nur in der Küche und im Bad.“
Herr de Vos unterbricht die Debatte in einem frühen Stadium und wendet sich noch einmal an uns beide: „Was meinen Sie, kommen wir ins Geschäft?“
Miloš hat vorher noch eine Frage. „Wenn wir renovieren, können wir dann auch eine Wand umsetzen?“
„Was? Eine Wand umsetzen? Wozu soll denn das gut sein?“
„Also, das Haus ist eigentlich genau richtig, aber die Küche ist viel zu klein. Aber wenn wir die Wand zwischen Küche und Wohnzimmer umsetzen, dann wäre mein Freund sicher nicht mehr zu stoppen. Er kocht so gerne. Davon abgesehen sind nämlich alle seine Bedingungen erfüllt: Altstadt, Miete gut, Bad mit Fenster.“
„Ah!“, macht er, „Sie haben die Durchreiche noch nicht gesehen!“ Er geht zum Esstisch im hinteren Teil des Raumes und umkurvt ihn. „Schauen Sie mal, mit Schiebetür. Sehr praktisch, so stößt man sich nicht.“
Miloš präzisiert sein Anliegen: „Wir wollen nicht von der Küche ins Wohnzimmer gucken können, sondern eine größere Küche haben.“
„Was glauben Sie, was das kostet?“, fragt der Mann, ohne eine Antwort zu erwarten.
„Wenn sie uns das machen lassen, wird es jedenfalls nicht so viel kosten, als wenn es ein Handwerksunternehmen macht.“
Oh je, denke ich beunruhigt, was versprichst du da? Ich bin kein Maurer und du bist ein handwerklich nur begrenzt begabter Intellektueller!
„Ja, und wenn mein Haus einstürzt, sind Sie an nichts schuld. Es ist mein Elternhaus, ich will nicht, dass es verschandelt wird, bloß weil jemand eine größere Küche haben will. Die können Sie ja woanders einfacher kriegen.“
„Tja“, macht Miloš, „dann kommen wir nicht ins Geschäft.“
„Tja“, schließt er sich an, „so ist es dann.“

298

Diese Wohnung ist keine Wohnung, sondern ein kleines Häuschen, wie es so viele in niederländischen Städten gibt. Es stammt ungefähr aus den Sechzigern, ist aus rotem Backstein gemauert und mit ebenso rotem Dach und viel weißem Holz an Fenster- und Türrahmen sowie der Dachblende. Vorne an der schmalen Straßenseite hat es das typische große Fenster und daneben nur eine blau gestrichene Tür mit kleinem Fensterchen. Rechts neben dem Haus ist eine Garage, die zum Nachbarhaus gehört, und dazwischen befindet sich ein Gässchen von nicht mal einem Meter Breite, das vermutlich in den Garten führt.
Ich bin schon oft daran vorbei gefahren.

Zeitgleich mit unserer Ankunft steigt ein älterer Herr aus einem am Straßenrand geparkten Auto. Er spricht uns an, stellt sich mit Willem de Vos vor, gibt uns seine Visitenkarte und sagt, dass er der Vermieter ist. Wir stellen uns ebenfalls vor. Ich nehme die Karte an mich und lese, dass Herr de Vos auch in Zuyderkerk wohnt.
Das klingt ganz gut. Die Stadtteil-Variante ist das Vermietermodell, das mich bisher am meisten überzeugt hat. Im Notfall ist er nicht weit weg; falls man sich ausgesperrt hat(148), kann man den Vermieter auch zu Fuß besuchen, um den Ersatzschlüssel abzuholen. Aber er wird nicht einfach so unangemeldet vor der Tür stehen, denn er weiß ja nicht, ob man gerade nach Hause gekommen ist. Ich habe auch schon mit dem Vermieter unter einem Dach gewohnt, was eine mehr oder minder diskrete Dauerüberwachung war, und der Vermieter meiner ersten Studentenbude in Alkmaar wohnte an die hundert Kilometer entfernt und war nie da, wenn man ihn brauchte.
Da öffnen Herr und Frau Brouwer schon die Haustür. Das Vorstellen geht weiter und wir knubbeln uns alle fünf im Flur.
Links geht eine Treppe hoch in den ersten Stock, der zugleich das Dachgeschoss ist. Die Stufen sind mit weinrotem Teppich verkleidet. Sollten wir hier einziehen, werde ich als allererstes diese Stolperfalle beseitigen.
Herr Brouwer führt uns jedoch nach rechts ins große Wohnzimmer. Das ist wie in einer typischen Alte-Leute-Wohnung. Gemütlich, leicht miefig und etwas verstaubt, zugestellt mit klobigen alten Möbeln, voller Fotos und Erinnerungsstücke, der Fernseher viel zu laut und natürlich eine dicke Katze auf dem Sofa. Von hier aus kann man auch alles beobachten, was auf Straße und Gracht passiert. Die Kaap Hoorn kann ich leider nicht sehen, die Gracht hat in der Mitte eine Biegung und mein Liegeplatz ist dahinter.
Wir verlassen das Zimmer und gehen zur nächsten Tür.
Der Flur macht hier einen 45-Grad-Knick, damit man unter der Treppe herkommt. Der Winkel unter der Treppe ist mit einem geblümten Vorhang versehen, Frau Brouwer zeigt uns, was dahinter ist: Staubsauger, Besen, Getränkekästen und in einem Regal Schuhputzzeug, Ersatzglühbirnen und was man so hat.
Zur Linken ist das Bad, es enthält natürlich Klo, Waschbecken und Dusche, dazu Waschmaschine und Trockner (und wenn man will, auch einen großen Wäscheständer) und es hat ein großes Fenster, durch das man in den Garten sehen kann. Ich glaube, hier will ich bleiben.
Am Ende des Flurs befindet sich die Küche, und wenn ich gedacht habe, wir hätten uns im Flur geknubbelt, werde ich eines Besseren belehrt. Gut dass ich dünn bin, sonst könnte ich mich nicht mehr umdrehen. Nein, hier will ich nicht bleiben!
Herr de Vos betont den Nutzen der integrierten Abstellkammer, die sogar ein Fenster in Schießschartengröße hat, sodass man problemlos lüften kann. Frau Brouwer schiebt sich an ihm vorbei und öffnet das wesentlich größere Küchenfenster, durch das man aufs Nachbargrundstück und die Garagenrückwand gucken kann. Sie erklärt, dass nebenan eine Familie mit drei lieben Mädchen wohnt.

297

Er murmelt ein Anti-Lob auf die Bürokratie unseres Sozialstaats, betrachtet den Zettel und hält ihn mir hin, „Ich verstehe die Sprache, aber nicht die Schrift.“
Seufzend lese ich vor: „Erstens: klären, ob sie Asylgeld oder Sozialhilfe hatte. Zweitens: selbiges Geld abbestellen. Drittens: den Aufenthalt offiziell mit einem Datum beenden. Viertens: sagen sie dir auf dem Amt.“ Ich gebe ihm den Zettel wieder und prompt fällt mir noch etwas ein. „Schreib auf: fünftens, dem Vermieter Bescheid geben, dass die Wohnung leer wird und er keine Nachmieter kriegt – oder doch?“(146)
„Ich wüsste nicht, wer in dieses Loch einziehen sollte. Wieso weißt du das eigentlich alles? Du hast doch gar nichts damit zu tun.“
„Ich bin ein paar Mal mitgegangen, wenn Eltern von unseren Kindern einen Beistand oder einen Zeugen haben wollten. Wieso weißt du das alles nicht, du bist doch ständig bei deinen georgischen Leuten und hilfst ihnen durch den Alltag?“
„Es sind nicht meine georgischen Leute und zum Amt ist jemand anderes mit ihnen gegangen, der davon mehr Ahnung hat.“
„Ach ja, sechstens: nimm vorsichtshalber deinen Arbeitsvertrag mit der MBB mit. Als Beweis, dass du im Land bleiben willst, aber trotzdem nicht die Hand aufhältst. Falls jemand danach fragt.“
„Aha. Braucht man einen Termin?“
„Nein, du musst nur Wartezeit einrechnen. Erfahrungsgemäß wartet man aber länger, je später am Tag man hingeht.“
„Klar, das sind ja alles arbeitslose Faulpelze“, bemüht er grinsend ein paar Vorurteile, „die steigen erst mittags aus dem Bett.“
„Bitte keine Verallgemeinerungen über Arbeitslose“, grinse ich mit. „Ich hatte mal einen Freund, der ist jeden Morgen im Berufsverkehr joggen gewesen. Obwohl er den Rest des Tages gar nichts zu tun hatte!“
„Du sagst, du hattest diesen Freund – was ist mit ihm passiert?“
„Oh, eines Tages ist er so schnell gelaufen, dass er sich selbst am nächsten Tag überholt hat. Da ist er in einen Zeitstrudel geraten. Tja, seitdem hat ihn keiner mehr gesehen.“
„Und du findest, dass ich komische Bücher lese?“, lacht er.


dreiundneunzigstes Kapitel

Am nächsten Tag bin ich recht unausgeschlafen, denn als wir endlich in die Betten gefunden hatten, war es nicht mehr „noch nicht sehr spät“, sondern schon wieder früh.(147) Aber wenn ich heute zeitig schlafen gehe, kann ich das Defizit aufholen. Außerdem grüßt ja schon das Wochenende am Horizont, denn es ist ein kurzer Freitag. Wir Kollegen von den unteren vier Gruppen haben höchstens eine 38,5-Stunden-Woche (natürlich gibt es auch Leute mit weniger Arbeitsstunden), aber weil wir ja nicht einfach alle Kinder mit Erreichen unseres freitäglichen Feierabends nach Hause schicken können, wechseln wir uns ab. Diese Woche ist es also Grietje, die länger bleibt.
Ich nutze meinen frühen Feierabend, um Marijkes Schwiegereltern anzurufen. Als ich sie nach acht Versuchen endlich erreicht habe und einen Wohnungsbesichtigungstermin vereinbart habe – für „jetzt“! Rentner haben ein lustiges Zeitverständnis! – radle ich zur Schule, hole Miloš von seinen seltsamen Büchern weg und gemeinsam fahren wir zum Visserdijk, um die Wohnung anzugucken.

296

„Das klingt ja total friedlich! Dann ist endlich genug Platz zwischen euch, er wird ja vermutlich nicht unangemeldet hier aufkreuzen, das heißt, du kannst deine Eltern besuchen, wenn du Bock drauf hast und ansonsten hast du Ruhe vor ihnen!“
Er grinst. „Ungefähr das hab ich auch gedacht.“
„Eben hab ich noch gebetet, dass Jesus mehr Platz zwischen dir und deinem Vater macht, und jetzt ist es schon passiert.“
„Ja, und er hat sich schon viel früher drum gekümmert! Danke, Jesus!“
Ach, mein Jesus. Du weißt alles und hast für alles den besten Zeitplan!
„Apropos kümmern“, greife ich das Stichwort auf, „bevor deine Mutter ausreist, muss sie sich auch noch um ein paar Sachen kümmern. Sie muss sich im Sozialamt abmelden … oder ist sie Asylantin?“
„Wie soll ich das wissen?“
„Na ja, habt ihr bei Einreise Asyl beantragt?“
„Ich habe gar nichts beantragt, ich wollte nicht lange bleiben.“
„Aber irgendwas müsst ihr doch gekriegt haben.“
„Erst habe ich kein Geld gekriegt, weil ich zu Besuch war, dann hatte ich diese schwierigen Arbeitsstellen, da habe ich ein bisschen Geld und viel Ärger gekriegt und danach habe ich überhaupt nichts mehr gekriegt.“
„Könntest du wohl aufhören, so auf dem Wort „gekriegt“ rumzureiten?“, unterbreche ich seine Ausführungen.
„Ich reite nicht darauf herum.“
„Aber du hast es gerade dreimal in einem Satz gesagt. Du könntest andere Wörter verwenden, du kennst genug.“
„Du könntest auch andere verwenden, du kennst noch viel mehr Wörter. Aber du sagst immer „gekriegt“. Sag doch mal erhalten, bekommen, bezogen, ergattert und so weiter.“
„Willst du mir jetzt erklären, wie ich zu reden habe?“
„Keineswegs.“
Das hier führt zu nichts, außer dass ich mich über ihn aufrege. Er hat ein ganz anderes Sprachverständnis als ich und denkt sich jeden Tag neue Wortspiele für seine Buskinder aus, die ich zum Teil gar nicht verstehe, und wenn, wäre ich nie darauf gekommen. „Also, du hast kein Asylgeld gekriegt“, betone ich. „Was hat deine Mutter gekriegt?“
„Außer Übergewicht und Depressionen?“
„Es ist okay, dass du ein Klugscheißer bist, aber verschon mich bitte mit deinem Zynismus.“ Ich nehme das Blöckchen für Einkaufszettel und male meine leserlichsten Buchstaben.
„Entschuldige“, sagt er in die Stille.
„Schon gut.“
„Ich weiß nicht, was sie bekommen hat, ich habe mich nie darum gekümmert.“ Noch einen Moment ist es still zwischen uns, dann will er wissen: „Was schreibst du da?“
„Eine Liste von Dingen, die vor der Abreise noch erledigt werden müssen.“
„Was bringt es meiner Mutter, wenn die Liste niederländisch ist? Diktier mir, was zu tun ist und ich schreibe es für sie auf.“
„Nein, die Liste ist für dich. Du wirst nämlich mit ihr hingehen.“
„Warum? Sie will ausreisen.“
„Richtig, aber du verstehst die Sprache. Außerdem weißt du dann, dass sie da war. Das ist wichtig, denn wenn sie einfach so ausreist und du Pech hast, kommt das Amt sonst auf dich zu und will das zu viel gezahlte Geld zurück.“
„Aber es ist doch gar nicht bei mir angekommen?“
„Na und? Das ist denen ja egal.“

295

Und dann die vielen Leute vor der Bühne! Zum Schluss sie-ben-hun-dert! Diese Zahl geht nicht in meinen Kopf hinein.
Der spannendste Moment des ganzen Tages; Merle dreht sich zu mir um. Ein Kameramann hat das aus nächster Nähe aufgenommen und dabei ihren erwartungsvollen Blick festgehalten. Jedem Zuschauer des Films(145) ist klar: Gleich passiert etwas Außergewöhnliches.
Mit der Gitarre gehe ich nach vorne und nach dem Missgeschick mit dem Mikro fange ich meine Ansprache an.
Hätte ich als Gast im Publikum gestanden, wäre ich wohl schon da in Tränen ausgebrochen. Als aber das Lied anfängt, entsteht eine atmosphärische Dichte, dass ich beinahe in Echt zu heulen anfange.
Insgesamt kommt es mir jedoch vor, als sei es der Film einer anderen Band. Als habe das alles gar nichts mit mir zu tun.

Zuhause blinkt der Anrufbeantworter, aber eine Nachricht wurde nicht hinterlassen. Weil es noch nicht sehr spät ist, rufe ich zurück. „Hier ist Jeremy van Hoorn. Sie hatten angerufen, worum geht’s?“, erkundige ich mich förmlich, weil es eine unbekannte Nummer ist.
Mein Gesprächspartner sagt etwas serbisches, soviel verstehe ich, mehr aber nicht. Ich gebe das Telefon weiter, „Ist für dich“ und will ins Bad.
Miloš sagt seinen Namen. Er bekommt etwas gesagt, knurrt selber zweimal „da“ (das heißt ja) und legt dann auf.
„Das ging aber schnell“, stelle ich fest. „Wer war es?“
„Mein Vater. Er will, dass ich herkomme. Jetzt.“ Wie immer, wenn es um Herrn Kusturica geht, hat Kusturica Junior einen sehr frostigen Blick drauf.
„Soll ich mitkommen?“
„Nein. Ich habe keine Angst vor ihm.“
Und weg ist er.
Hilfe, Jesus! Was ist jetzt schon wieder los? Warum bestellt Herr Kusturica seinen Sohn zu sich? Gibt es neuen Ärger? Kannst du nicht ein bisschen mehr Abstand zwischen den beiden einrichten? Die Welt ist so riesig groß – warum müssen beide unbedingt in ein- und derselben Kleinstadt wohnen?

Weil es wie gesagt noch nicht sehr spät ist, beschließe ich zu warten. Zumindest eine halbe Stunde lang, dann muss ich schlafen gehen. Ausgeschlafen ertrage ich den Lärm zwischen all den Kindern besser und gehe geduldiger mit ihnen um.
Meine selbst gesteckte Zeitvorgabe ist fast erreicht, dann ist Miloš wieder da. Er sieht nicht aus, als hätte es Streit gegeben. Das ist aber auch alles, was ich aus seiner Mimik lesen kann.
Daher wünsche ich zu erfahren: „Was hat er sich dieses Mal ausgedacht?“
„Er hat mich gefragt, ob ich die Absicht habe, mit ihnen zurück nach Peckovar zu kommen. Ich habe gesagt, dass ich die Absicht nicht habe. Das ist sensationell, dass er fragt und nicht einfach etwas bestimmt. Ich habe keinen blassen Schimmer, wer ihn auf die Idee gebracht hat, dass ich alt genug bin um selber zu denken. Natürlich musste er noch mal drauf hinweisen, dass er immerhin Bescheid sagt und nicht einfach abhaut. Na ja, jedenfalls hat er einen Bekannten, der sie Ende nächster Woche bis Wien mitnehmen wird und von da aus will er dann mal sehen, wie sie heimkommen. Eine feste Adresse haben sie noch nicht, aber bis dahin soll ich mich beim Petrovič oder Grigori Subotič melden, alte Freunde von ihm. Die haben sogar noch die selben Telefonnummern wie früher. Und wenn wir eine neue Adresse haben, sollen wir sie bitte auch bekannt geben.“

294

Da ich nicht weiß, wann Miloš nach Hause kommt, mache ich mir ein paar überbackene Tomaten-Käse-Brote und fahre dann schon zeitig los, aber nicht direkt zu Merle, sondern erst noch in den Proberaum.
Seit die große Nervosität vorbei ist, die ich vor dem Auftritt in Almere hatte, macht es mir wieder großen Spaß, mittendrin für eine halbe Stunde herzukommen und in aller Ruhe(144) an meinem wunderschönen Schlagzeug zu sitzen und zu trommeln. Jedes Mal wenn ich es anschaue, bin ich glücklich über meine tollen Bandkollegen.
Wir hangeln uns ja gerade von Auftritt zu Auftritt; Normalität gibt es wohl nicht mehr für uns (außer wir nehmen diesen Wahnsinn als Normalität an). Da ist es um so wichtiger, dass ich mir Zeit nehme für meine eigene musikalische Entfaltung.


zweiundneunzigstes Kapitel

Ausnahmsweise bin ich mal nicht der Letzte, sondern Lisanne kommt zu spät.
„Sorry, Leute, ich stand im Supermarktstau“, gibt sie als Erklärung an. „Ich bin in der Arbeit pünktlich weggekommen und wollte dann eben schnell noch was einkaufen. Mit besonderer Betonung auf „eben schnell“. Ich weiß nicht warum, aber ich erwische immer die Kasse, an der die ganzen komplizierten Fälle sind. Kein Preis auf der Ware, kein Kleingeld in der Tasche, Karte klemmt, Reklamationen, ach nein, dann möchte ich das lieber doch nicht mitnehmen, Sonderwünsche und so weiter. Und je mehr, je eiliger man es hat. Voll ätzend“, schnaubt sie.
„Was willst du trinken?“, fragt die gute Gastgeberin.
Nach kurzem Zögern wendet sie sich an Miloš: „Ist das okay für dich, wenn ich ein Glas Wein nehme?“
„Was sollte daran nicht okay sein? Vor allem, was fragst du mich?“, wundert er sich.
„Weil du keinen Alkohol trinken willst und ich will dich nicht in Versuchung bringen.“
„Oh, danke, aber so viel Rücksichtnahme ist nicht nötig. Merle, hast du Wein?“ Er wartet ihr Nicken kaum ab, „Gib ihr Wein.“
„Und selber?“
„Kaffee.“
„Jeremy?“
„Kaffee.“

Ich lasse mich mitten auf das große Sofa fallen, Lisanne und Miloš setzen sich links neben mich. Merle schiebt die DVD ein und pflanzt sich an meine andere Seite.
Der Film geht los.
Ich sehe die leere große Bühne; mein jetzt nicht mehr pinkfarbenes Schlagzeug und die anderen Instrumente glänzen in der Sonne. Dann erhebt sich das Heulen vom Staubsaugerschlauch (ich hätte nicht gedacht, dass man das so lange vorher schon hört) und wir betreten die Bühne. Ganz locker, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes gemacht, gehe ich hinter meine Trommeln und fange an. Jeder Schlag sitzt, der Sound ist einwandfrei. Einer der Kameraleute kommt ganz dicht zu mir hin und filmt mein konzentriertes Gesicht – scheint so, dass ich die Zähne zusammen beiße. Von wegen, ganz locker. Derweil spielen die drei anderen wie verrückt auf ihren Kinderinstrumenten, hüpfen und tanzen herum und haben sichtlich Spaß.
Die Kameraleute legen sich richtig ins Zeug, filmen jeden einzelnen, mehrere Bandmitglieder, die ganze Bühne, das Publikum, von vorne und von hinten und von ganz weit weg, ich mag mir gar nicht ausmalen, wie viel Technik für das Festival nötig gewesen ist.

293

„Ist nicht jeder nur seine eigene Person?“, belustigt Miloš sich.
Bernard grinst auch, sagt aber: „Ja, das stimmt. Nur meine eigene Person sucht eine Wohnung. Das ist auch gut so, dass ich endlich wieder nur meine eigene Person bin.“
„Zurück zur Post“, erinnert mein Mitbewohner. „Wer könnte geschrieben haben?“
„Wie soll ich wissen, wer geschrieben hat?“
„Du sollst es ja nicht wissen, sondern du sollst raten.“
Welche Nachricht ist so wichtig, dass er mir das am anderen Ende der Stadt mitteilen muss? Es kann nicht um Rechnungen gehen und Liebesbriefe erhalte ich gerade keine. Und so aufgeregt wie er unter seiner stoischen Fassade ist, kommt eigentlich nur ein Absender in Frage. „Hat zufälligerweise ein gewisser Carlos van Hoogedonk von Delta 3000 geschrieben und seinem Schreiben noch viel zufälligerer ein paar CDs beigelegt? Also, wenn es der nicht ist, will ich auch nicht länger raten.“
„Wie soll ich wissen, was drin ist, glaubst du, ich öffne deine Post? Briefgeheimnis!“, pöbelt er mich lachend an. „Allerdings hast du Recht, Carlos hat geschrieben.“
„Delta 3000 kenne ich. Warum kriegst du Post von denen?“
„Die Frage ist falsch gestellt. Genauer müsste es heißen, warum kriegen wir Post von denen“, korrigiert Miloš.
„Und die Antwort lautet, dass hier zwei Rockstars vor dir stehen, die Ende August mit ihrer Band auf einem Festival die große Karriere gestartet haben und diese Post enthält vermutlich die Audio- und Videoaufnahme des Auftritts.“
„Wenn ihr Ende August auf einem Festival gespielt habt und Delta 3000 damit zu tun hatte, muss es das Almere open air gewesen sein, und dann seid ihr beide die Hälfte von Donnerdrummel“, setzt Bernard die Einzelteile zusammen. „Ich hab zugehört, das war ziemlich gut, wenn auch sehr abgedreht.“
Wir beide gucken uns zufrieden an. Ungefähr so wollten wir beschrieben werden.
„Übrigens spiele ich E-Gitarre, angeblich recht gut, und die Band, in der ich war, hat ganz ähnliche Musik gespielt wie ihr. Allerdings mit viel seriöserem Anspruch. Es geht da so ein Gerücht um, dass eure Gitarristin euch kurz vor dem Auftritt verlassen hätte. Vielleicht treffen wir uns mal bei euch im Proberaum?“
„Gerne!“, lade ich ihn begeistert ein. „Wir sind immer Dienstags ab halb acht da.“
Miloš ist ungleich reservierter. „Wir fragen erst mal die Mädels, was die davon halten.“
„Warum? Er kann doch mal mitmachen?“
„Bis jetzt sind wir gut ohne Gitarre ausgekommen.“
Leider bin ich gerade heute nicht gut im Gedankenlesen, deswegen verstehe ich nicht, was er mir mit seinem Blick mitteilen will. Immerhin kapiere ich, dass er mir was mitteilen will und so vertage ich Bernards Besuch im Proberaum: „Wir fragen also erst mal die Mädels.“
Nun bimmelt sein Handy und er verabschiedet sich. „Ach ja, ich habe uns bei Merle eingeladen, Lisanne kommt auch und dann können wir den Film gleich heute angucken. Du hattest doch nichts anderes vor?“
„Das ist hiermit abgesagt“, lache ich. „Nein, ich hatte nichts vor.“

Meine Stadtführung findet ein sehr schnelles Ende, denn auf einmal habe ich es eilig, nach Hause zu kommen. In dem dicken braunen Pappumschlag, der auf dem Küchentisch liegt, sind wie erwartet die zwei CDs mit den Audio- und Videoaufnahmen des Auftritts, diverse Papiere und ein Brief von Carlos van Hoogedonk und dem Team aus der Musikredaktion enthalten.
Carlos bedankt sich für unsere tatkräftige Unterstützung, mit der das Festival zu einer einzigartigen Angelegenheit geworden ist. Außerdem lobt er unsere produktive Zusammenarbeit und den gut strukturierten und pünktlichen Verlauf unseres Auftritts.
Er wartet mit allerhand Daten und Fakten auf, so haben bei Beginn unserer Vorstellung etwa 150 Leute vor der Bühne gestanden, bei der Zugabe wurde erneut gezählt und da waren es schon um die 700.
Siebenhundert Leute!! Gut, dass mir das nicht klar war. Sonst wäre ich bestimmt noch viel nervöser gewesen.

292

„Ich hab gehört, du und Miloš, ihr sucht eine Wohnung“, fällt ihr ein, „Vielleicht habe ich was für euch. Meine Schwiegereltern ziehen nämlich um und haben noch keine Nachmieter.“
„Wo wohnen sie denn?“
„Am Visserdijk.“
Ach, das wäre ja hübsch. Die Kaap Hoorn liegt auch am Visserdijk, dann wären wir Nachbarn. „Und ab wann wird die Wohnung frei?“
„Geplant ist, dass sie zum ersten Dezember umziehen, aber vielleicht könnt ihr auch schon schneller rein. Willst du die Telefonnummer haben?“
„Gerne.“
Marijke kramt in ihren Taschen, findet einen Kassenbon und notiert auf der Rückseite den Namen „Brouwer“ und die Zahlen.
„Danke. Wann kann ich sie am besten erreichen?“
„Probier es aus. Sie sind schon in Rente, sie haben keinen besonders festen Tagesablauf.“
„Bernard sucht übrigens auch eine Wohnung. Du kannst das ja mal weitertragen.“
„Tu ich. Aber jetzt muss ich los, der Große muss zum Arzt. Tschüss!“

Im Lehrerzimmer treffen wir Miloš, der in einem dicken Buch liest.
„Darf ich vorstellen“, frage ich rhetorisch, „mein Kumpel Miloš, das Mädchen für alles an dieser Schule, und Bernard, unser neuer Unterrichtshelfer.“
„Also das Mädchen für alles für die Driehoeken“, grinst Miloš, legt einen Zettel in die Seiten und klappt das Buch zu.
„Was liest du da?“, will Bernard wissen.
Er winkt ab, „Es geht um Zusammenhänge zwischen Darwins Evolutionsthesen und dem Schöpfungsmodell der Bibel. Aber es ist sehr kompliziert erklärt, und wenn man die Gedanken des Autors ein bisschen weiterdenkt, kommt man auf die Idee, dass er nicht wirklich kapiert hat, worüber er eigentlich redet – weder was Darwin betrifft noch die Bibel.“
„In welcher Gruppe bist du denn, dass du so was für den Unterricht brauchst?!“
„Ich bin in der sechsten. Aber ich lese es einfach so. Ich fürchte allerdings, dass der Klappentext das interessanteste am ganzen Buch gewesen ist.“
„Du liest seltsame Bücher“, bekunde ich, aber das ist ja nichts Neues.
Jetzt schaut unsere Sekretärin Ingela herein. „Miloš, könntest du bitte Denisa nach Hause fahren? Ihr ist schlecht, sagt sie.“
„Klar. Kommt sie zum Bus?“
„Das weiß ich nicht, aber sie ist in der Turnhalle.“
„Okay.“ Zu mir sagt er „Bis später“, Bernard nickt er zu und ist raus.

Ohne weitere Unterbrechungen schaffe ich es, Bernard die restlichen Gebäude zu zeigen. Weil zeitgleich mit dem Ende meines Rundgangs mein Feierabend erreicht ist, biete ich ihm an, ihm den nächsten Supermarkt zu zeigen, das Rathaus, eine gute Kneipe, den Baumarkt, die beste Pizzeria und was man so braucht, wenn man neu ist in einer Stadt.
Er nimmt die Hilfe gerne an.

Wen treffen wir vor der Stadtbücherei? Miloš natürlich, die alte Leseratte. Seine Arbeitszeiten sind ja nicht so regelmäßig wie meine. Die Pausen überbrückt er meist lesend oder er geht mal schnell eine Runde schwimmen oder so, was ihm gerade einfällt.
„Du hast Post gekriegt“, offenbart er mir, denn er war zwischendurch zuhause.
„Von wem?“, will ich wissen.
„Rat mal“, grinst er mich an.
„Moment“, mischt Bernard sich ein. „Ich dachte, ihr sucht noch eine gemeinsame Wohnung, wie kannst du dann wissen, dass er Post bekommen hat?“
„Wir wohnen schon zusammen, aber meine Wohnung ist zu eng für zwei. Willst du sie wirklich nicht ansehen? Du bist ja, soweit ich das verstanden habe, nur deine eigene Person.“

291

einundneunzigstes Kapitel

Bei der Bandprobe am Dienstag gebe ich keinen einzigen der von Miloš gewünschten Töne von mir.
Erstens habe ich noch nie beim Trommeln ernsthaft gesungen, außer in dieser vertrackten Zeit, bevor Merle zu uns gekommen ist. Und das war eher zum Abgewöhnen.
Und zweitens ist es lästig, weil ich dann meinen Mund ans Mikro halten muss. Beim Trommeln bin ich aber insgesamt und dauernd in Bewegung und falls mir eine Textzeile entschlüpft, ist das Mikro mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht da, wo mein Mund gerade ist. Also müsste ich still halten. Das ist genauso zum Abgewöhnen.
Erfreulicherweise geht niemand darauf ein, dass ich mich in Schweigen gehüllt habe.

Donnerstags habe ich keine Pausenaufsicht und so bin ich dabei, als in der Mittagspause Wouter Kolijn in Begleitung eines Mannes unseren Aufenthaltsraum betritt.
„Mittag zusammen“, grüßt er munter. „Stellt euch vor, wir haben uns vermehrt!“
„Hurra, es ist ein Junge!“, erwidere ich fröhlich.
„Genau“, grinst er und nickt zu seinem Begleiter hin: „Er heißt Bernard. Das allein ist aber nicht der Grund, warum wir heute hier sind. Bernard van Giersbergen ist der beste Unterrichtshelfer, den wir in der Kürze der Zeit auftreiben konnten und ich hoffe, ihr Driehoeken und auch alle anderen kommt gut mit ihm zurecht.“
„Hurra, es ist ein Unterrichtshelfer!“, setze ich noch einen oben drauf.
Wouter rollt mit den Augen. „Hast du einen Clown gefrühstückt?“
„Nein, in der Witzkiste geschlafen!“
Er winkt ab und stellt uns Bernard vor. „Er wird erst mal eine Woche zur Probe arbeiten. Kann ich euch jetzt miteinander alleine lassen?“
Einhellig wird genickt.
Der pädagogische Schulleiter ist kaum aus dem Zimmer, da fangen die Kollegen schon an, Bernard nach allen möglichen Sachen auszufragen.
Wir erfahren, dass er zweiunddreißig ist und bis jetzt in Zwolle gelebt und gearbeitet hat. Leider – oder zum Glück – habe er erst kurz vor Schuljahrsbeginn angefangen, sich im ganzen Land zu bewerben und unsere Schule habe ihm den interessantesten Arbeitsplatz bieten können. Jetzt sei er auf der Suche nach einer dauerhaften Bleibe, denn bisher sei er in einer Ferienwohnung untergekommen.
Ich nutze den Moment um einzuwerfen, dass Miloš und ich auch eine neue Wohnung suchen. „Wenn wir schnell was finden, kannst du meine jetzige haben“, fällt mir ein.
„Ach, das ist mir ein bisschen zu ungewiss“, lehnt er lachend ab. „Ich mag Rechnungen mit Unbekannten nicht besonders, vor allem wenn es um eine Wohnung geht.“
„Auf so einen Deal würde ich mich auch nicht einlassen“, stimmt Wiebke ihm zu.
Diesen Informationen folgen einige weitere, und irgendwann ist die Mittagspause um und die Kollegen wenden sich wieder ihren Arbeitsbereichen zu.

In den Räumen der Driehoeken treffe ich Grietje, Shelley, die Kinder und Bernard.
„Gut, dass du kommst“, sagt sie. „Könntest du bitte mit Bernard durch alle Häuser gehen und ihm alles zeigen und so? Dann übernehmen Shelley und ich das Nachmittagsprogramm.“
„Na immer doch. Wiedersehen, allerseits.“
Bernard stellt seine Sachen im Aufenthaltsraum ab und wir gehen erst mal rauf zum Sekretariat und zum Lehrerzimmer, damit er die Wege kennt.
Im Hauptgebäude treffen wir Marijke Diekmanns, die anscheinend frei hat, denn sonst wäre sie ja schon im Unterricht bei ihrer siebten Gruppe. Ich stelle die beiden einander vor.

290

„Aha“, macht sie und hat wahrscheinlich nichts verstanden; aus einem einfachen Grund: sie kennt Gott nicht. „Und wann werden wir ein Lied mit niederländischem Text von dir kriegen? Dann müsstest du nicht immer übersetzen und erklären.“
„Gar nicht.“
„Wieso nicht? Du schreibst geile Lieder, einen Ohrwurm nach dem nächsten.“
„Schön, dass sie dir gefallen, aber ich werde keine niederländischen Lieder schreiben.“
„Warum nicht? Dein Niederländisch ist in den letzten Wochen viel besser geworden.“
„Aber es ist die falsche Sprache.“
„Was ist denn falsch an der Sprache? Wir reden doch die ganze Zeit damit?“
Schon wieder steht er da und weiß nicht, wie er es erklären soll. Und ich frage mich, warum er bloß so einen sprachlosen Tag hat.
Dieses Mal springt Lisanne in die Bresche: „Merle, du weißt doch, wie unser Bassist tickt. Wenigstens ungefähr. Nach außen ist er der Coolste, und das ist gut so, denn der Bassist ist immer der Coolste von der ganzen Band. Aber nach innen ist er voller Gefühle – muss ja nicht jeder mitkriegen! Es ist völlig egal, wie gut er Niederländisch spricht, das wird nie seine Herzenssprache werden. Seine Lieder kommen alle aus dem Herzen, und Serbisch ist die Sprache seines Herzens.“
Wieder sagt er erleichtert „Ja.“

Auf dem Heimweg denke ich über diese Sache mit der Herzenssprache nach. Warum habe ich nicht längst angefangen, serbisch zu lernen? Will ich denn damit warten, bis er eines Tages seine Angst vor den Leuten in Peckovar verliert und mich in seine erste Heimat einlädt?
Schon mehrfach hat er es mir angeboten, mein „Wortschätzchen“ (das Begriffe wie ja, nein, guten Tag enthält und die Zahlen von eins bis vier) zu erweitern. Und im Gegenzug habe ich schon mehrfach festgestellt, dass wir uns besser kennen lernen müssen. Das ist wichtig für mich, gerade weil ich ja oft nicht weiß, was andere Menschen von mir erwarten. Zu wissen, wie die anderen denken, fühlen und handeln, gibt mir Sicherheit.
Ich bin nicht besonders erfolgreich mit Fremdsprachen, aber ich weiß, dass ich ihm eine große Freude machen würde.

Samstags finden Pieters und Becks’ Umzüge statt. Morgens versammeln sich die beiden Umzugshelferteams an den „Ausgangswohnungen“ in Zuyderkerk und Edam, um das Hab und Gut einzuladen. Wir sind nur zu viert (Pieter und sein Vater, der aber nicht schwer heben darf, sowie Miloš und ich) gegenüber acht Leuten im anderen Team und dazu haben wir auch eine längere Fahrt bis IJmuiden, aber wir sind trotzdem schneller und können einen freien Parkplatz direkt vorm Haus ergattern.
Als Auto und Anhänger gerade leer sind, treffen die Edamer ein und können den Platz übernehmen. Ich bleibe mit Pieters Vater in der Wohnung, um schon Schränke aufzubauen, während Miloš dem anderen Team beim Schleppen hilft. Becks hat natürlich viel mehr Zeug.
Pieter ist überall zugleich, glaube ich, und irgendwann erteile ich ein Zimmerverbot. Ich kann mich nicht auf den Möbelaufbau konzentrieren, wenn er ständig aufkreuzt und gute Tipps gibt, die wir nicht brauchen. Er sieht auch schon völlig fertig aus, ich möchte nicht wissen, wie wenig er letzte Nacht geschlafen hat.
Mittags verabschieden sich die meisten Edamer und wir vier erledigen zusammen mit Becks und einer Freundin den Rest.
Pieter hat übrigens Recht, die neue Wohnung ist eine Pracht. Schon im jetzigen chaotischen Zustand ist das zu sehen. Sie wirkt viel größer als sie ist, was vermutlich mit den hohen Decken und daraus resultierend großen Fenstern zu tun hat. Na ja, und sie ist natürlich tiptop renoviert, die Wände strahlen Helligkeit aus, selbst an einem diesigen Tag wie heute. Das Parkett ist dunkel, rötlich, gelblich und ich überlege die ganze Zeit, welche Hölzer verwendet wurden. Ich komme nicht drauf. Wahrscheinlich sind es tropische Sorten. Auf kleinen Flächen würde die Vielfalt unordentlich aussehen, aber in den großen Zimmern sieht es wie eine lebendige Struktur aus.
Ob Miloš und ich das überbieten können? Ich weiß nicht mal, ob es in Zuyderkerk solche Wohnungen gibt und wenn ja, wo. Und was sie kosten.

289

Nachdem wir ein älteres Lied gespielt haben (und Miloš außer Rhythmus nichts von mir zu hören gekriegt hat), wendet Lisanne sich an ihn: „Hast du noch mehr Neues?“
Er zieht ein kleines Heft aus der Hosentasche und blättert darin. Merle will mitlesen, aber er dreht sich weg.
„Lass doch mal gucken“, beschwert sie sich.
„Nein“, macht er und hält das Heft so, dass sie nicht hineingucken kann.
„Gib es mir, ja?“, bettelt sie.
„Nein. Es stehen sehr persönliche Sachen drin.“
Scheint so, dass jetzt ihr Ehrgeiz erwacht ist. Sie will seinen Arm zu sich ziehen, um mit der anderen Hand das Heft zu erwischen, aber damit ist sie natürlich an der falschen Adresse. Miloš ist viel schneller als sie. „Ich habe dir gesagt, du kriegst es nicht!“
Auch wenn er sich Mühe gibt, dass es keiner merkt, ist er doch nicht so gelassen wie sonst.
„Merle“, gehe ich dazwischen. „Lass ihn in Ruhe! Wahrscheinlich könntest du ohnehin nichts lesen, oder glaubst du, dass er niederländisch schreibt?“
„Ja, aber wenn es doch sowieso in der Bassistengeheimsprache ist, warum hat er mich dann nicht reingucken lassen? Da hätte ich ja eh’ nichts kapiert!“
„Aber es geht dich nichts an, was er in seiner Bassistengeheimsprache in sein heimliches Heft schreibt. Das ist es, was er versucht dir klar zu machen.“
„Das hätte er ja sagen können.“
Ich schüttele den Kopf, dazu fällt mir bald nichts mehr ein. „Hat er gesagt, dass sehr persönliche Sachen drinstehen oder habe ich mir das nur eingebildet?“ Und wofür mache ich eigentlich Harmonieübungen, wenn danach gleich weiter gezankt wird?
Sie brummt etwas wie „Fangt halt an Musik zu machen!“
Das tut er mit seinen typisch trockenen Bassläufen.(143)
Und ich kenne, was er spielt. „Ist das nicht“, fange ich an.
Er grinst. „Sag es nicht, sondern mach uns einen Rhythmus dazu.“
Ich trommele, halte mich aber nicht genau ans Original „All along the watchtower“ von meinen Kumpels von U2. Vorgetragen von dem Menschen, der ganz sicher nicht mit deren Liedern auftreten wollte. Da bin ich ja mal gespannt!
Nach drei Durchläufen singt er einen serbischen Text dazu.
Wir improvisieren, bis wir eine gute Version aufnehmen können.
Lisanne verteilt die CDs und will wissen: „Hier kommt die Frage, die immer kommt. Worum geht’s in dem Lied?“
„Grob zusammen gefasst ist es, dass Gott nicht irgendwas von mir verlangt, also dass ich seine Gebote halte oder in der Bibel lese oder nett zu allen Menschen bin, sondern er will Zeit mit mir haben. Das ist der Refrain: Komm mich besuchen, ich warte auf dich, ich koch uns Kaffee, lass uns zusammen sein.“
„Aber der verlangt doch jetzt von dir, dass du ein Jahr lang solo bist und nicht säufst und nicht kiffst, also alles sein lässt, was Spaß macht?“, fragt Merle.
Darauf weiß er keine Antwort. Deswegen versuche ich zu helfen: „Korrigier mich, wenn ich falsch liege, aber ich glaube nicht, dass Gott ihn in seiner Freiheit einschränken will. Eher will er ihm eine neue Freiheit zeigen. Nämlich die, mit Situationen des Lebens anders umzugehen. Er sagt ja, dass Gott auch helfen will, wenn er ihn lässt.“
„Ja“, sagt Miloš erleichtert.

286

„Wenn ich sage, ich trinke keinen Alkohol, dann werde ich keinen trinken. Warum fragst du, willst du mich auf die Probe stellen?“
„Du musst ja nicht gleich so aggressiv werden“, bemängelt sie.
„Wenn ich aggressiv werde, sieht das anders aus!“
„Aber warum willst du das alles sein lassen? Ich verstehe das nicht.“
„Ich lasse es halt!!“, brüllt er sie an. „Es ist mein freier Entschluss. Ist das so schwierig zu kapieren?“
Auf einmal kapiere ich, worum es geht. Bibellesen sowie der Umgang mit Alkohol und Sex waren die wichtigsten Themen in seiner „Wertesammlung“. Das Bibellesen hat er schon mit großem Eifer angefangen. Mit dem Sex (das heißt, der Enthaltsamkeit) ist ziemlich sicher am vergangenen Wochenende etwas schief gelaufen, deswegen will er jetzt Nägel mit Köpfen machen. So eine Veröffentlichung hilft dabei ungemein.
„Aber wie kommst du auf diese Idee?“, fragt Lisanne.
„Es war nicht meine Idee, sondern die von Gott. Er will mir auch bei der Durchführung helfen, wenn ich ihn lasse.“
„Und das hat er dir alles selbst gesagt?“, wundert Merle sich.
„Nein. Eine Frau, die mir sehr wichtig ist, hat es ausgerichtet.“
„Meinst du nicht, dass die was von dir will und erst in einem Jahr Zeit für dich hat?“
Zugegeben, die Idee ist schräg. Seine Reaktion ist es aber auch. Er baut sich vor ihr auf und droht: „Das nimmst du sofort zurück.“
Sie lacht. „Aha! Es ist also so!“
„Du sollst es zurück nehmen!“
Bevor sie übereinander herfallen, gehe ich mal lieber dazwischen. „Merle, hör auf. Die Dame hat andere Motive gehabt. Sie kennt Miloš und sie kennt Gott.“
„Kennst du die etwa auch oder wieso kannst du das so genau sagen?“
„Er hat gesagt, dass sie es ausgerichtet hat. Also war es nicht ihre Idee. Und ja, ich glaube, ich kenne sie.“ Es kann nämlich eigentlich nur Mommi sein. Stichwort „Wolkenpudding und andere Zuwendungen“. Niemanden sonst lässt er so nah an sich heran – soweit ich weiß.

„Was machen wir heute?“, will Lisanne wissen.
„Lasst uns erst mal so ein bisschen locker werden. Improvisieren, Töne meditieren und so. Jeder stellt sich auf die anderen ein, bis es gut klingt. Da bleiben wir für eine halbe Minute oder so und dann wechselt irgendwer Takt oder Tonart und von vorne. Okay?“, schlage ich vor. Nach dem Geschrei von gerade ist mir sehr danach, erst etwas Ruhe rein zu bringen.
„Nur, wenn du auch ein Mikro nimmst“, stellt Miloš Bedingungen.
Schulterzuckend hole ich mir eins und schließe es an.
Leise und vorsichtig fangen wir an, finden einander und steigern uns bald zum ersten Crescendo. Oben angekommen wechselt Lisanne die Tonart und das Spiel geht erneut los. Irgendwann suchen wir aber nicht weitere Harmonien, sondern bündeln unsere Energien in einem gemeinsamen Lied.

„Du spielst echt unberechenbar“, sagt sie zu Miloš, als wir dem ersten noch ein zweites haben folgen lassen. „Ich konnte mich kaum nach dir richten, nur als ganz lockere Verbindung.“
„War es zu kompliziert? Ich wollte bloß etwas ausprobieren.“
„Es ist gut. Wenn du das ab jetzt öfter machst, kann ich mich drauf einstellen, aber fang das bitte nicht an, wenn wir auf der Bühne improvisieren. Dann bin ich verloren.“
Er grinst. „Das Risiko werde ich nicht eingehen.“
Jetzt will ich was wissen. „Erklär mal, warum ich unbedingt ein Mikro haben musste.“
„Das war auch ein Experiment. Du wirst ab jetzt immer eins haben. Und mindestens im Refrain mitsingen.“
„Aha.“
„Ja. Singen ist nicht deine Hauptaufgabe, kann es nicht sein, denn du fühlst dich nicht gut damit. Das hast du mal gesagt, bevor Merle zu uns kam, und es ist okay. Musik soll Spaß machen. Aber die Band kann nicht auf deine Stimme verzichten. Du kannst dir aussuchen, ob du Text singst oder nur Töne machst. Aber ich will dich hören.“
Begeistert bin ich nicht – aber wenn’s der Musikwissenschaftler dieses Ensembles verlangt, versuche ich mich seinem Willen zu beugen. Bis jetzt haben sich alle seine verrückten Experimente gelohnt.

285

„Ja. Es war mehr Arbeit als wir gedacht haben. Und ich kann am schnellsten mal in der Schule frei machen. Djamila fand das Projekt auch sehr gut, sie meinte, du hast eine andere Farbe verdient. Also hat sie sich dafür eingesetzt, dass ich Montag nur Bus gefahren bin und ansonsten in die Werkstatt konnte.“
Ich bin total gerührt, verkneife mir jedoch alle weiteren Gefühlsregungen und nehme meinen Platz ein. Die Trommeln klingen beinahe so gut wie vorher. Hier und da muss ich ein bisschen nachspannen oder lockern, dann bin ich mit dem Klang zufrieden. So ein schönes Schlagzeug hatte ich noch nie.(142) Tiefschwarz, ohne die kleinste Macke, alle Metallteile sind blank geputzt, insgesamt ist es wie neu.
Als ich aufhöre zu trommeln, stelle ich fest, dass die drei mich betrachten. Glücklich und froh sehen sie aus. „Ist was?“, erkundige ich mich erstaunt.
„Nein, überhaupt nichts“, winken sie ab und nehmen ihre Instrumente auf. „Wir freuen uns, weil du dich so freust. Was spielen wir denn heute?“
„Moment“, fällt mir auf. „Ihr habt mit Cokko geredet, ja? Damit er mich lange in Rotterdam festhält?“
Lisanne nickt. „Wir wussten ja, dass du gerne mal einfach so trommeln gehst. Aber dann wäre unsere Überraschung im Eimer gewesen.“
„Aha. Und Mommi war auch eingeweiht?“
„Ja“, gibt Merle zu. „Sonntagabend war uns klar, dass einmal Lackieren nicht reichen wird. Das Pink schimmerte noch durch. Das hatten wir nicht eingerechnet.“
„Aber hattest du nicht eigentlich vorgehabt, das Wochenende mit Helena zu verbringen? Oder war das auch nur vorgeschoben?“, wende ich mich an Miloš.
„Nein“, sagt er und ich sehe, dass ihm die gute Stimmung für einen Augenblick verlustig geht. „Das war fest geplant. Aber als es dann anders kam, haben wir umgeplant und mit den Trommeln angefangen.“
„Davon wusste ich ja gar nichts“, stellt Lisanne fest. „Warum planst du, das Wochenende mit der schönen Helena zu verbringen und bist dann schließlich die ganze Zeit mit Jeremys Trommeln beschäftigt?“
„Weil ich nicht mehr mit ihr zusammen bin“, erklärt er.
Scheint so, dass er Helena wirklich gern hat; mit ihr Schluss zu machen muss Folge eines schweren Gewissenskonflikts gewesen sein. Offensichtlich leidet er unter seiner Entscheidung. Soll ich ihn vielleicht doch ansprechen und nicht abwarten, bis er mir von sich aus erzählt, was vorgefallen ist?
„Man kann sich wieder Hoffnungen machen, was dich betrifft“, stellt Merle grinsend fest.
Zum ersten Mal, seit sie dieses Spielchen betreiben, macht er nicht mit: „Dann musst du lange warten.“
Lisanne wundert sich. „Warum muss sie lange warten? Bist du nun solo oder nicht?“
Er will nicht darüber reden, das merke ich deutlich. Lisanne wird es auch spüren, feinfühlig wie sie ist, aber sie will offenbar eine Antwort haben. „Sag schon, warum?“
„Weil ich jetzt keine Freundin will. Ein ganzes Jahr lang will ich Single sein.“
„Aha“, macht Merle nicht weniger erstaunt. „Aber warum?“
Statt auf die Frage einzugehen, fügt er hinzu: „Und ich werde auch ein ganzes Jahr lang nicht kiffen und keinen Alkohol trinken.“
„Überhaupt nicht?“, „Auch kein Bier?“, „Nicht mal bei einer Party?“, reden wir übrigen durcheinander.
„Warum ist das so schrecklich für euch? Ihr wart doch der Ansicht, dass ich zu viel saufe!“
„Das hab ich nie gesagt!“, protestiert Merle.
„Ich aber“, sagt Lisanne zu ihr.
„Warum?“, wundert sie sich, „Das ist doch seine Sache?“
„Er wollte meine Meinung dazu wissen, also habe ich sie ihm gesagt.“
Merle wendet sich an Miloš, „Keinen Tropfen?“

284

„Nein, genau das ist das Problem. Ich hab mir gedacht, wir hängen eine Liste mit den Terminen auf und deine Mitarbeiter fahren uns gegen so unbezahlbare Dinge wie Freikarten, Live-Musik und so.“
Er grinst. „Da werden meine werten Mitarbeiter nicht nein sagen können. Ich werde es bei der Betriebsversammlung Ende nächster Woche vorstellen. Mach bitte bis dahin eine Liste mit den nächsten paar Terminen fertig, mit Datum, Uhrzeit und der genauen Adresse.“
„Tu ich.“
„Leserlich“, fügt er hinzu.
„Ich engagiere einen Schreiber.“
Steven guckt zur Uhr und sagt: „Und da fällt mir ein, es sollte doch diesen Film vom Festival geben … ist da was draus geworden oder waren es nur leere Versprechungen?“
„Ist noch nicht angekommen. Wir sollten ihn mit der Post kriegen, aber vor Ablauf von zwei Wochen ruf ich nicht an, um mich zu beschweren. Die haben nach so einem Festival noch anderes zu tun als nur Filmchen zu verschicken.“
Er nickt. „Jedenfalls, wenn er da ist, könnt ihr ihn hier unten im Aufenthaltsraum angucken. Lisanne war ja neulich ganz begeistert von unserem großen Fernseher.“
„Danke, das ist nett, aber wir würden das gerne erst mal alleine angucken“, weiche ich aus.
„Kann ich völlig verstehen. Es ist ja euer großer Tag gewesen. Schmeißt die Mehlsäcke einfach raus, die da rumlungern. Die können ihren Kaffee auch woanders schlürfen.“ Wieder guckt er zur Uhr. Jetzt nimmt er sein Telefon vom Gürtel, sagt mir „Warte mal kurz“ und drückt zwei Tasten. Ins Gerät sagt er „Fertig? … Gut. … Ja, ist unterwegs.“
„Hast du noch einen Termin? Ich bin durch mit meinen Anliegen.“
„Nein, ist okay. Also, wir machen es so“, sagt er grinsend und verabschiedet sich in Richtung seines Büros.

Ratlos verlasse ich die Backstube. Warum hat er das Gespräch hier in all dem Lärm gehalten, obwohl er doch gar nichts in der Bäckerei zu tun gehabt hat? Wollte er mich nicht in seinem Büro haben?
Auf der Treppe in den ersten Stock höre ich, dass jemand trommelt. Das dürfte Miloš sein, was ein gutes Zeichen ist, denn es heißt, dass er seine Abwesenheit für die Bandprobe unterbricht – wenn nicht sogar beendet. Das wäre wirklich schön, denn was bringt es, einen Mitbewohner zu haben, der nie da ist?
Ich betrete den großen Raum mit der langen Fensterseite, sehe, dass die Mädels auch schon da sind (bin ich denn etwa schon wieder zu spät dran? So lange hat das Gespräch mit Steven nicht gedauert) und dann fällt mir fast die Kinnlade runter. „Wo sind meine Trommeln? Und woher kommt das da?“ Ich weise auf das anscheinend nigelnagelneue Schlagzeug, das an der Stelle von meinem auf dem alten Teppich steht.
Miloš steht auf und überlässt mir mit großer Geste den Platz.
„Äh“, mache ich. „Darf ich mal fragen…?“
„Wir gratulieren herzlich zur gewonnenen Wette. Schwarz. Zeitlos und professionell“, erklärt Merle fröhlich.
Ich gehe um die glänzende Pracht herum. Das Höckerchen dahinter ist pink und weist Gebrauchsspuren auf, die ich sehr gut kenne. „Wie habt ihr denn das gemacht?“, will ich verdattert wissen. „Und wann?“
„Zwischen Samstagmorgen und heute“, sagt Lisanne. „Mein Bruder ist ja Lackierer, er hat uns ein paar Tipps gegeben und wir durften sogar die Werkstatt seines Chefs benutzen. Als du am Samstag zu Cokko gefahren bist, haben wir es in die Werkstatt gebracht und abgeschliffen, am Sonntag und gestern neu lackiert und heute konnten wir endlich alles zurück bringen und aufbauen. Gut, dass Steven dich eine Weile in der Backstube festgehalten hat, sonst hättest du mitgekriegt, dass wir noch am Stimmen sind.“
Überwältigt schüttele ich den Kopf, gehe zu ihnen hin und umarme sie einen nach dem anderen. „Deswegen warst du nie in der Schule und zuhause“, enttarne ich Miloš.

283

neunzigstes Kapitel

In der Schule ist langsam eine Art Alltag für die Kinder eingekehrt. Das Schreibenlernen schreitet voran, die kleinen Sprachschüler machen Fortschritte – die einen schneller, die anderen langsamer, aber wir haben noch kein Kind gehabt, das gar nichts gelernt hat. Das macht uns Mut, wenn es mal sehr langsam voran geht.
Auch die ganz Kleinen, die während der Sommerferien vier geworden sind, finden sich immer besser zurecht und offenbaren Stärken und Schwächen.
Das ist einer der Aspekte, die ich so an meinem Beruf liebe. Jedes Kind ist wie eine Wundertüte, du weißt vorher nicht, welche Überraschungen in ihm stecken.

Eine eher unschöne Überraschung bereitet uns unser Unterrichtshelfer Klaasjan. Er kennt sich gerade richtig in unseren Arbeitsabläufen aus und kann besser einschätzen, wie wir denken und daher (mit und ohne Aufforderung) mehr Pflichten übernehmen, da rückt er heraus, dass er sich den Beruf anders vorgestellt hat und kündigt. Drei Wochen nach Schuljahresbeginn! Hätte er nicht ein bisschen früher darauf kommen können?
Weil er natürlich noch mitten in der Probezeit war, ist er von einem Tag auf den nächsten nicht mehr da; wir konnten uns nicht darauf vorbereiten.
Neben den Fragen der Kinder haben wir uns vor allem um eine Frage zu kümmern: Woher kriegen wir möglichst schnell einen Ersatz?
Leider wachsen Unterrichtshelfer auch hier in Holland nicht auf den Bäumen und backen kann ich auch keinen. In der eilig einberufenen Konferenz mit den Kollegen der unteren Gruppen und der Schulleitung einigen wir uns so: Bis ein neuer Unterrichtshelfer gefunden ist, werden die beiden Unterrichtshelfer der Cirkelen und Vierhoeken ab sofort ein Drittel ihrer Zeit bei uns verbringen. Die Situation ist nicht ideal, aber so muss es gehen. Grietje und ich können uns nicht um alles kümmern und Shelley ist zwar sehr umsichtig und fleißig, aber wir wollen sie noch nicht mit den Kindern alleine lassen.

Eine Viertelstunde früher fahre ich los zur Bandprobe, weil ich Steven ja noch auf das Transportmittel-Problem ansprechen will, besser gesagt will ich es ansprechen, bevor es ein Problem wird.
Er ist in seinem Büro und ehe ich mit meinem Anliegen heraus rücken kann, nimmt er mich mit in die Backstube, wo wie immer um diese Uhrzeit noch einiger Betrieb ist. „Na, was macht das aufregende Leben als Rockstar?“, fragt er gut gelaunt.
„Ach, das verhält sich mittlerweile wieder recht verträglich. So ein hoher Adrenalinspiegel ist ziemlich anstrengend. Hör mal, ich wollte dich was fragen.“
„Rück raus.“
„Wir werden in Zukunft weitere Auftritte haben, es soll nicht bei den beiden in Hoorn und Almere bleiben. Wir haben ja auch schon vier neue Zusagen.“
„Wo geht’s denn dann hin?“, unterbricht er.
„Ende September nach Hoorn ins „Space Oddity“, eine Woche später nach Alkmaar zur Musikmesse, Ende Oktober nach Amsterdam in einen Club, dessen Namen ich aber immer wieder vergesse, irgendwas ausländisches … frag Miloš, der kann ihn sich merken … und im November noch einmal nach Amsterdam. Dann hat ein osteuropäisches Kulturzentrum sein zwanzigjähriges Jubiläum.“
„Sehr cool“, sagt er. „Früher war genau das mein Traum. Musik machen, eine Band haben, auf der Bühne stehen. Na ja, das hat sich nicht ergeben“, lenkt er ab, „Du wolltest gerade irgendwas fragen.“
„Ja, an den Auftritten hängt nämlich, dass du sicher nicht immer unser Fahrer sein willst oder kannst. Da wollte ich fragen, ob wir zu einer anderen Lösung mit deinem Transporter kommen können.“
„Na klar. Kann denn einer von euch das Teil fahren?“

282

In der Mittagspause treffe ich ihn nirgends an und erfahre schließlich, dass er nur zum Fahrdienst kommt und ansonsten frei genommen hat. Und nach der Schule habe ich auch keine Zeit, ihn zu finden und zu folgenden Inhalten zu befragen: erstens, was er die ganze Zeit macht, zweitens, warum er sich den Schultag zwischen den dringendsten Aufgaben frei genommen hat und drittens – dazu fällt mir sicher auch noch was ein. Denn kurz vor Feierabend ruft meine gute alte Mommi in der Schule an und lässt mich ans Telefon beordern. So etwas kommt ab und zu vor, wenn sie mich nämlich nicht zuhause erwischt.
„Jaha“, singe ich in den Hörer.
„Hallo mein lieber Juhunge“, singt sie zurück. „Komm mich doch bitte heute besuhuchen!“
„Tuhu ich sofohort!“
„Also bis in fünfzehehen Minuhuten.“
„Tschühühüss!“
Das ist eine der Sachen, die ich so an ihr mag. Sie ist jung genug geblieben, um auch mal Blödsinn zu machen.

Sie hat gekocht – es gibt Blumenkohl mit Kartoffelgratin, was ihr jedes Mal sehr gut gelingt, danach will sie alles über unser Festival wissen. Ich schreibe mir auf einen Notizzettel, dass ich Steven wegen der Transportgelegenheit(141) fragen muss, denn wenn wir nun öfter durch die Lande reisen werden, sollten wir uns frühzeitig eine vernünftige Regelung zu dem Transporter ausdenken. Sicher will er nicht jedes Mal unser Fahrer sein. Das Papier stecke ich in die Hosentasche, um mich dann dem Informationsbedürfnis meiner Mommi zu widmen.
Ich erzähle ihr, wie es gestern bei Cokko war und was wir erlebt haben. „Gleich will ich übrigens noch in den Proberaum“, hänge ich an, damit sie weiß, dass ich noch etwas anderes geplant habe.
„Warum, was willst du da? Probe ist doch dienstags?“
„Stimmt, aber ich will mal ein bisschen trommeln. Einfach nur so. Das habe ich lange nicht gemacht. Wir sind zwei Monate lang mehrmals die Woche zusammen gewesen und haben meist sehr konzentriert gearbeitet. Da war keine Zeit für meine eigene Trommelei.“
„Meinst du denn, dass du dich in der neuen Band auch nicht frei entfalten kannst?“
„Doch, schon. Wir entfalten uns ja alle wie verrückt. Aber einfach nur so ein bisschen vor mich hin trommeln – das fehlt mir gerade ziemlich. Eigentlich wollte ich schon gestern hin, aber ich kam erst so spät aus Rotterdam heim.“
„Ich finde es jedenfalls gut, dass der Auftritt in Almere nicht euer einziger gewesen sein soll. So was wie mit Eelcos Band, das ist doch nichts richtiges. Das ganze Üben nur ums Üben willen, und manchmal ein Auftritt in der Kirche, wofür aber nicht so viel Üben nötig gewesen wäre, weil ja kaum neue Lieder ins Programm aufgenommen werden.“
„Ich wusste gar nicht, dass du das so siehst“, stelle ich verwundert fest.

Nachdem Mommi und ich ungefähr drei Stunden mit diversen Gesellschaftsspielen zugebracht und viel gelacht haben, ist es zu spät, um noch trommeln zu gehen.
Die Wohnung ist dunkel und leer; Miloš ist nicht da. Hätte er nicht gerade unter emotional schwierigen Umständen mit seiner Freundin Schluss gemacht, könnte ich auf den Gedanken kommen, er wäre frisch verliebt. Immerhin sehe ich anhand seiner Hinterlassenschaften, dass er im Laufe des Tages hier gewesen sein muss. Zum Anstellen der Waschmaschine war wohl nicht genug Zeit. Aber das ist nicht mein Problem; ich habe wesentlich mehr Klamotten als er.

281

Wir machen einen kurzen Zwischenstopp in der WG, wo ich meine Tasche abstelle, dann fahren wir ins Stadtzentrum und suchen uns ein ansprechendes Lokal für unser Mittagessen. Den Rest des Tages sind wir damit beschäftigt uns auszurollen, was zuletzt passiert ist. Cokko ist jetzt in einem Schachclub, um seine Hirnwindungen in Schwung zu halten (nicht, dass er das nötig hätte, er sagt das), außerdem hat er Kontakt bekommen zu einem Kanadier, der ihn zu einer Gruppe mit Landsleuten bringen will. Der Kanadier, den er getroffen hat, kommt aus Toronto, aber laut dessen Aussage sind auch ein paar aus der Gegend um Calgary dabei, und mein Bruder freut sich schon, endlich wieder seinen Heimatdialekt zu hören.
Das mit Miloš und Helena versteht er auch nicht, aber er sagt, dass es wahrscheinlich die einfachere Lösung ist. Immerhin bin ich – trotz der Versöhnung – nicht besonders begeistert darüber gewesen, in Zukunft wieder mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Vielleicht hat sie ja verlangt, dass er nicht mehr für mich Partei ergreift und stattdessen zu ihr hält? So ernst wie es ihm mit der Freundschaft zu mir ist (von Blutsbruderschaft hat er noch nicht gesprochen, aber früher oder später wird das passieren, spekuliert Cokko), könnte das schon Grund genug gewesen sein, mit ihr Schluss zu machen.
Jedenfalls findet er es toll, dass wir uns eine gemeinsame Wohnung suchen wollen und meldet sich schon mal als Umzugshelfer an.

Das sonntägliche Frühstück ist ein waschechtes Spätstück, danach lädt Cokko mich zu einer Hafenrundfahrt ein, die jeder Besucher Rotterdams mal unternommen haben sollte. Es ist meine zweite Rundfahrt, allerdings bin ich bei der ersten ein kleiner Junge an seines Opas Hand gewesen, deswegen ist es Zeit für eine Auffrischung.
Rotterdam hat den größten Seehafen Europas – wir sehen natürlich nur einen Bruchteil davon. Um alles zu sehen, müsste man sich vermutlich eine Woche Zeit nehmen oder noch viel länger. In einer knallroten Barkasse fahren wir durch die Kanäle, Grachten und Hafenbecken aus verschiedenen Jahrhunderten und fühlen uns winzig, wenn wir an den riesigen Containerschiffen entlang tuckern. Der Kapitän hat viele wahre und einige gewiss unwahre Geschichten über den Hafen zu erzählen; er macht das alles sehr unterhaltsam und lustig und als wir endlich wieder am Pier ankommen, ist es schon fast sieben Uhr! Ich wollte doch zuhause noch in den Proberaum! Vor neun werde ich Zuyderkerk nicht erreichen, je nach dem, wie die Zugverbindungen sind. Meinem Bruder ist es unangenehm, dass er die Zeit so falsch eingeschätzt hat. Wir fahren zur WG, holen meine Sachen und er bringt mich noch zur Bahnstation.

Miloš ist nicht zuhause, als ich endlich ankomme, deswegen räume ich meine Tasche aus, sortiere die sich bereits anhäufende Wäsche in hell und dunkel und rot und Kochwäsche, nehme Brot aus dem Eisfach, denn es ist nicht mehr genug für morgen da und begebe mich bald darauf ins Bett.
Im Halbschlaf höre ich ihn in die Wohnung kommen und erwäge noch kurz, ihn zu fragen, was er die ganze Zeit gemacht hat, aber da bin ich schon eingeschlafen.


neunundachtzigstes Kapitel

Morgens ist keine Gelegenheit zum Reden. Miloš muss früher los als ich, weil er ja neuerdings als Busfahrer für unsere Rollstuhlschüler tätig ist. Bisher haben die Eltern entweder ihre Kinder selber zur Schule gebracht oder ein Taxi bestellt.
Drei der Kinder wohnen weiter weg in Dörfern, die holt er zuerst ab. Danach fährt er noch zwei Haushalte am Stadtrand an, bringt die fünf zur Schule und hat dann noch eine längere Fahrt im Stadtgebiet vor sich, um alle Kinder einzusammeln.
Einer der Jungen mit dem langen Schulweg war früher bei uns Driehoeken. Letzte Woche haben wir uns auf dem Schulhof getroffen und er hat mir erzählt, dass es immer lustig ist im Bus. Miloš erzählt Geschichten oder sie machen Ratespiele.

280

achtundachtzigstes Kapitel

Auch beim Frühstück denke ich noch über die beiden nach, aber ich bin ein paar Kapitel weiter. Wenn er eines Tages mit seiner Freundin zusammen zieht (auch wenn er noch nicht darüber nachdenkt), werde ich mir die gemeinsame Wohnung nicht mehr leisten können und dann erneut umziehen müssen. Wäre es da nicht einfacher, hier zu bleiben, auch wenn die Wohnung für zwei unpraktisch und für drei zu klein ist? Ich hasse umziehen. Alles muss ein- und in der neuen Wohnung wieder ausgepackt werden, die Dinge brauchen eine neue Ordnung. Und der ganze Dreck! Und wehe, man sucht etwas, das schon oder noch im Karton ist!

Jetzt höre ich jemanden zur Wohnungstür herein kommen. Wer mag das sein? Mommi und Pieter klopfen für gewöhnlich an und Cokko holt mich bestimmt nicht hier ab!
Also bleibt nur mein Mitbewohner, der ja das ganze Wochenende in Alkmaar verbringt. Er zieht die Schuhe aus und lässt an der Tür zum Wohnzimmer seine Tasche fallen. Die Plastikfüßchen am Taschenboden erzeugen ein klackerndes Geräusch auf den Dielen.
In der Küchentür bleibt er stehen. „Was tust du hier?“
„Wie, was tue ich hier? Zufälligerweise wohne ich in dieser Wohnung.“
„Du wolltest Cokko besuchen“, erinnert er, nimmt eine Tasse vom Brett, lässt sich auf seinem Stuhl nieder und gießt sich die zweite Hälfte meines Frühstückskaffees ein.
„Das stimmt.“ Hört sich das nur so an oder ist ihm meine Anwesenheit gerade überhaupt nicht recht? „Ich nehme den Zug um zehn. Was aber tust du hier?“
„Kaffee trinken.“
„Das sehe ich, aber du wolltest doch bis Sonntag bei Helena sein?!“
„Ist vorbei.“
„Wie meinst du das?“ Erst jetzt bemerke ich, dass er unrasiert ist! Du liebe Zeit!
„Na ja, vorbei. Aus. Ende.“ Er guckt auf die Uhr, „Ich habe vor anderthalb Stunden Schluss gemacht.“
Ich begreife immer weniger. Das einzige, was ich aus seiner Körpersprache lesen kann, ist, dass er sehr, sehr wütend zu sein scheint. „Was ist passiert?“, frage ich vorsichtig, damit mir nicht gleich der ganze Dampfkessel um die Ohren fliegt.
„Du kannst Helena fragen, wenn es dir so wichtig ist.“
Inzwischen kenne ich seine sieben Gesichtsausdrücke(140), und diesen hat er nur, wenn jeder Überredungsversuch zwecklos ist.

Als ich nach dem Umsteigen in Hoorn im Zug nach Rotterdam sitze und die Zeitung meines Sitzgegenübers im Blickfeld habe, erkenne ich die Ironie des Schicksals. Helena ist nun in zwei Jahren hintereinander am selben Tag Single geworden. Letztes Jahr hat sie mich verlassen und dieses Jahr hat Miloš sie verlassen.
Scheinbar ist der sechste September kein gutes Datum für sie!
Und natürlich werde ich sie nicht fragen, womit sie sich die Beziehung ruiniert hat. Eher warte ich ein Weilchen ab, bis mein Freund es mir in einem schwachen Moment selbst erzählt. Diese Momente gibt es nämlich durchaus, auch wenn er sie sicher anders nennen würde.

Cokko holt mich am Bahnsteig ab. Nach der Begrüßung wünsche ich zu erfahren: „Woher wusstest du, wann ich komme? Oder hast du den ganzen Vormittag hier auf mich gewartet?“
„Du bist jetzt zwar ein Rockstar, aber das mit den Telefonen hast du noch nicht begriffen, was?“, lacht er. „Ich habe vorhin bei euch angerufen und wollte wissen, wann du kommst. Miloš hat mir gesagt, welchen Zug du genommen hast. Da konnte ich mir ausrechnen, wann du hier sein würdest.“

279

„Natürlich verstehst du die niederländische. Aber du hast gesagt, wenn es schnell gehen muss, schreibst du in kyrillischen Buchstaben. Deswegen habe ich diese Bibel ausgesucht. Ich will, dass du im Schlaf verstehst, was du liest. Es ist die zweite Hälfte der Bibel, nämlich die, in der erst Jesus dabei ist und dann der Heilige Geist kommt. Die erste Hälfte kannst du dir dann später mal selber zulegen. Und am besten fängst du hier an zu lesen“ Ich blättere das Büchlein auf und versuche die fremden Buchstaben zu entziffern: „Mattej.“
„Матеј“, korrigiert Miloš.
Meine Version klang doch genauso? Ich umgehe diese Klippe, „Jedenfalls hat er die Gute Nachricht in die Sprache seiner Freunde übersetzt, deswegen ist es leicht zu kapieren, worum es geht. Er hat sehr viel erklärt. Danach kommen noch drei andere Berichte von Freunden von Jesus, die sein Leben aufgeschrieben haben und diverse Kapitel, zu denen ich dir was erzählen kann, wenn du soweit bist mit Lesen.“

Den Rest des Tages ist er nicht mehr ohne seine Bibel zu sehen. Ich bin zwischendurch eine Weile bei Mommi und mehrere Weilen bei Pieter und nach einem kurzen Aufenthalt zuhause noch im Proberaum, um meine Jacke abzuholen, die seit gestern Mittag da liegt. Miloš liest und liest. Er scheint sogar seine Freundin vergessen zu haben, mit der er erst einen Tag zusammen ist und die ihn heute gerne gesehen hätte, wie ich sie kenne.


siebenundachtzigstes Kapitel

Montags lasse ich meine Kollegen und Kolleginnen so viel von Musik reden wie sie wollen. Als Ausgleich gibt es keine Pizzabrötchen. Trotzdem sind alle begeistert. Selbst Jenny Walraven von der Schulleitung kommt in unsere Gruppenräume und gratuliert mir zum Erfolg.
Natürlich wollen auch alle wissen, wann und wo wir das nächste Mal zu erleben sind und es ist gut, dass Grietje noch ein paar Flyer in der Handtasche hat. Ich muss mir angewöhnen, immer welche einstecken zu haben.
Und sie wollen den Film vom Festival sehen, denn ständig sind Kameraleute auf der Bühne unterwegs gewesen; Merle ist sogar mit einem zusammengestoßen. Ich habe sie kaum wahrgenommen, so konzentriert war ich. Ich verspreche eine Vorführung zu organisieren – vorher muss ich das Werk aber mal selber angucken, damit ich weiß, wie ich darauf aussehe.

Die ganze Woche habe ich mit der Eifersucht zu tun, sie fällt mich zu den ungünstigsten Momenten an wie ein tollwütiger Hund. Ich schicke sie jedes Mal wieder dahin, wo sie hergekommen ist und verbiete ihr in Jesus’ Namen, mein Leben zu beeinträchtigen.
Donnerstags ist der Kampf endlich gewonnen und das ist gut so, denn abends kommt Helena zu Besuch(139) und ich schaffe es nicht immer, wegzuhören oder wegzugucken, wenn sie sich berühren, ansehen, sich liebe Worte zumurmeln und so weiter. Keineswegs kuscheln sie die ganze Zeit miteinander, aber es knistert ganz schön zwischen ihnen. Die Wohnung ist zu klein für drei.

Als ich am Freitag zu Feierabend nach Hause komme, wird der errungene Sieg noch einmal auf die Probe gestellt.
Auf dem Küchentisch liegt nämlich ein Briefchen, drauf mein Name.
Ich falte die Nachricht auf und lese: „Lieber Jeremy, das gestern war keine gute Idee. Du hast recht, wenn du Helena nicht mehr hier haben willst. Ich lade sie nicht wieder ein, versprochen. Das funktioniert nicht. Ich werde das Wochenende bei ihr verbringen. Habe eine gute Zeit ohne mich … Gott segne dich. M.“
Ja, er segnet mich. Und wo Gottes Segen ist, hat Eifersucht keinen Platz.
Trotzdem gehe ich ein bisschen in mich. Wie finde ich das, wenn mein Kumpel das ganze Wochenende bei seiner Freundin verbringen will? Und was könnte sich daraus entwickeln? Ob sie schon nach so kurzer Zeit miteinander schlafen? Ob er ihr auch so verfällt wie ich ihr verfallen bin? Irgendwie hatte ich geglaubt, er würde nicht so schnell … oder ist es sie, die nachgibt? Das passt nicht zu ihr, zumindest nicht, wie sie früher war … aber zu ihm passt es erst recht nicht. Aber was weiß ich schon von seinem Verhalten in diesen Dingen? Nichts.
Ich hätte es lieber gehabt, er würde sich mehr nach unserem Gespräch über Christsein und Sex richten. Aber ich darf da ja nichts sagen, ich habe mich auch nicht dran gehalten, manipulierbar hin oder her.
Ich weiß zu wenig von ihm. Wir müssen uns besser kennen lernen.

278

sechsundachtzigstes Kapitel

Mitten in der Nacht bin ich in mein Bett gefallen und jetzt wache ich auf und habe keinen Schimmer, was die Tageszeit ist. Es ist völlig still in der Wohnung.
Ich bleibe noch einen Moment liegen und denke an gestern.
Mannomann, war das ein Tag! Das „Almere open air“ – danke Jesus, das war toll. Und aufregend. Und hinterher noch das intensive Gespräch mit Miloš – das war auch toll. Danke für so einen Freund. Und danke, dass meine Seele heil werden kann, weil die fiese Lüge über mich selbst endlich weg ist.

Auf dem Weg ins Bad werfe ich einen Blick aufs Werkstattsofa, das ich leer vorfinde. Kein Mitbewohner, kein Anzugträger, kein Bassist, kein Freund. Niemand da. Wo mag er sein?
Dann fällt mir ein: Wenn ich ihm nicht erlaubt habe, seine Freundin mit hierher zu bringen, wo wird er sein? Sicher irgendwo mit ihr … Ich merke, dass mich das sehr ärgert.
Jesus, bitte ich, kannst du die Eifersucht wegnehmen?
Kann ich, sagt er. Kannst du aber auch. Schick sie weg.
Ich teste meine göttliche Autorität, noch bevor ich zum Klo gehe: Eifersucht! Verschwinde und komm nicht wieder!
Die geschlossene Badezimmertür liefert das beste Argument gegen meine Vermutungen.(137)
„Brauchst du noch lange?“, will ich wissen.
„Gä“, erklingt es unartikuliert.
Demnach rasiert er sich gerade. „Willst du auch Frühstück?“
„Komm rein oder bleib draußen, aber quatsch mich nicht zu“, fordert er, ohne den Platz am Waschbecken zu verlassen.
Ich habe versucht, seine Rockmusiker-Ehre zu kitzeln, aber er lässt sich nicht davon abbringen: unrasiert geht er nicht aus dem Haus. Bisher habe ich nur eine Ausnahme erlebt, nämlich als er völlig verkatert aus Hoorn gekommen ist.(138)
Ich pinkle und betrete die Duschkabine, und nachdem er fertig ist mit seinem Ritual, komme ich auf meine Frage zurück: „Also, willst du Frühstück?“
„Hast du mal auf die Uhr geguckt?“, belustigt er sich, „Es ist Viertel nach drei!“
„Hast du denn schon was gegessen?“ Ich drehe das Wasser ab und nehme mein Handtuch vom Haken.
„Nein.“
„Dann setze ich Kaffee auf“, verkünde ich. Mein Kaffee geht immer.

Als wir beide auf dem Balkon sitzen und unsere Kaffee-Kuchen-Käsebrot-Mahlzeit verzehren, schiebe ich ein eingepacktes Geschenk in Buchformat über den Tisch zu Miloš hin.
„Oh“, bemerkt er mit vollem Mund, „ist das für mich?“
„Nur, wenn du heute Geburtstag hast.“
„Dann ist es für mich“, grinst er und begibt sich daran, das bunte Papier abzulösen. Im Gegensatz zu mir geht er sehr ordentlich vor, durchtrennt die Klebestreifen vorsichtig mit einem Messer und faltet abschließend das Papier zusammen.
„Oh“, macht er wieder und liest, was auf dem Buchdeckel steht, „danke. Aber warum schenkst du mir eine serbische Bibel? Die niederländische verstehe ich doch auch?“

277

„Warum läufst du aber immer noch jeden Tag?“, hake ich nach, auch wenn ich mich geehrt fühle, dass er mir sein Herz ausschüttet. Es klingt, als sei es das erste Mal, dass er über das alles spricht.
Er winkt ab. „Gegen die Strecken von früher sind die heute ein Furz. Wenn ich mal weit laufe, sind es vielleicht zwanzig Kilometer. Kein Vergleich zu früher. Ich wollte mich kaputt machen, irgendwo umkippen und sterben. Heute laufe ich, weil man dabei gut Druck ablassen kann und weil es Spaß macht. Das hat angefangen, als … ja, ungefähr als ich nach Zuyderkerk gekommen bin. Bei den Arbeitsstellen gab es ja eine Menge Druck. Und es ist auch irgend­wann weniger geworden mit dem Kampf ums Leben.“
Ich weiß gar nicht, warum ich das fragen muss: „Wann?“
„Puh“, macht er und rechnet. „Ungefähr … vor drei … nein, zwei Jahren, oder war das … nein … seltsam! Das ist weniger geworden, als ich angefangen habe in der Jesus-Pop-Band. Aber ich glaube nicht, dass es an der Musik lag.“
„Nein“, ist mir auf einmal sonnenklar, „Das lag daran, dass Lisanne für dich gebetet hat. Das hat sie ja gesagt: seit dem Tag, an dem du das erste Mal in die Band gekommen bist, hat sie für dich gebetet.“
„Krass!“, freut er sich. „Ich wusste nicht, dass Gebet so etwas kann.“
„In der Bibel steht, der Glaube kann Berge versetzen.“
„Ja, ich habe das gelesen, aber ich dachte, da wären echte Berge gemeint, wie der Maglić.“
„Der wer?“
„Der Maglić. Das ist unser höchster Berg, er ist an der Grenze zu Montenegro. Er ist 2.386 Meter hoch.“
„Ah, jetzt geht es um Erdkunde, he? Unser höchster Berg ist der Vaalserberg. Der hat unge­fähr 320 Meter und ist an der Grenze zu Belgien und Deutschland.“
„Ein Hügel“, lacht er, „na ja, dafür gewinnen die Niederlande mit der Küste. Bosnien-Her­zegowina hat zwanzig Kilometer.“

Irgendwann fällt mir noch etwas ein: „Hast du nur nach Wohnungen für dich geguckt oder auch nach solchen für uns beide?“
„Ich habe auch nach größeren gesucht“, gibt er zu, „aber noch nichts angeguckt. Ich dachte, dafür muss ich erst fragen, ob du überhaupt dauerhaft mit mir zusammen wohnen willst.“
„Hast du denn schon mit einem Vermieter gesprochen?“
„Nein, ich sage ja, ich habe nur gesucht. In der Zeitung. Ich wollte keine große Wohnung sehen und dann doch alleine wohnen müssen.“
Mommi hat neulich gesagt, er mache alles mit Vollgas. Seit er an der Schule arbeitet, lernt er, als müsse er vier Jahre Stillstand in vier Wochen aufholen. Die Fahrstunden hat er in Rekordzeit absolviert. Wenn ich ihn jetzt auf den Immobilienmarkt loslasse, kommt es vermutlich noch vor dem Jahreswechsel zum Wohnungswechsel. Aber na ja, warum nicht?
„Ich würde gerne in der Altstadt bleiben.“
„Du willst also mit mir zusammenziehen?“, unterbricht er freudig.
„Ist das nicht rüber gekommen?“
Er lacht. „Würde ich dann so etwas fragen?“
„Wahrscheinlich nicht“, lache ich auch und mache es offiziell: „Also, lieber Miloš, ich möchte mit dir zusammenziehen. Hör zu, das sind meine Wünsche für die Wohnung: Altstadt­lage. Bad mit Fenster. Größere Küche. Bezahlbare Miete.“
„Um die bezahlbare Miete zu errechnen, müsste ich deine finanzielle Situation kennen.“
„Sag ich dir zuhause. Stell dir vor“, fällt mir ein, „ich bau uns einen großen Tisch für mindestens acht Personen und dann können wir so richtig viele Leute zum Essen einladen!“
„Dann wünsche ich mir eine Spülmaschine!“

Plötzlich schwingt die Tür auf und Merle und Lisanne platzen herein. Die eine betätigt den Felgen-Schellenkranz, die andere trägt eine kleine Torte mit Kerzen darauf vor sich her und beide schmettern ein Geburtstagsständchen, in das ich einstimme.
Miloš hievt sich lachend aus dem Sofa hoch. „Danke! Ihr seid ja verrückt!“
„Deswegen passt du so gut zu uns!“, kontert Merle.

29. November 2015

276

„Na ja, zum Beispiel wie Pieter und ich. Nicht solche Freunde, die man mal trifft und eine gute Zeit mit ihnen hat, sondern die man für schwere Entscheidungen braucht oder die einem die Meinung sagen.“
„Na sicher habe ich so einen. Der sitzt gerade neben mir und denkt komplizierte Sachen.“
„Und vor mir? Wir kennen uns ja noch nicht sehr lange, also gemessen daran, wie lang so eine Männerfreundschaft gehen kann.“
Er atmet tief durch. „Ja, ich hatte so einen richtigen besten Freund. Milan. Seine Eltern waren umgezogen und er kam in meine Schulklasse. Wir waren acht Jahre alt. Wir haben uns angeguckt und waren direkt Freunde. Wir haben eine Menge Blödsinn gemacht, wie Jungs das so tun und mit fünfzehn haben wir uns Blutsbruderschaft geschworen. Wir wollten uns nie verlassen. Milan und Miloš, haben sie immer gesagt, die kann nicht mal eine Frau auseinander bringen.“
Ja, beschließe ich, uns soll auch keine Frau auseinander bringen können. Dir zuliebe werde ich mich mit deiner Herzensdame abfinden. Wäre doch gelacht! Immerhin habe ich sechs Jahre mit Kristien ausgehalten!
Auf einmal ist der Container voll bleierner Stille. Ich gucke rüber zu Miloš und gucke in ein Gesicht wie aus Stein. „Was ist aus eurem Schwur geworden?“, frage ich, weil er gar nichts mehr sagt.
„Er hat den Krieg nicht überlebt.“
„Oh Gott“, murmele ich, und nach einer Weile: „Willst du es mir erzählen?“
„Nein, ich will nicht.“ Er räuspert sich, steht auf und geht an das Fenster, obwohl es draußen längst dunkel ist. „Aber es hat mit fast allen Sachen in meinem Leben zu tun, deswegen sollst du es wissen. Meine eigenen Leute haben ihn umgebracht, Serben. Milan war Bosnier.“
Mir bleibt die Luft weg. Er weiß, wer den besten Freund getötet hat, womöglich kennt er die Leute auch noch persönlich! Wie oft hat er den Alptraum wieder und wieder durchlebt?
„Deswegen will ich nicht mehr nach Peckovar. Ich würde die wieder treffen, die meinen besten Freund umgebracht haben. Ich weiß, wer es war, und wenn ich damals dabei gewesen wäre, hätten sie mich wahrscheinlich gleich mit erschossen. Keine Ahnung, was ich mit ihnen machen würde. Ich habe lange gekämpft um … na ja, um das Leben. Mal wollte ich tot sein, wollte bei ihm gewesen sein … dann wollte ich zurück und sie alle abknallen … und dann wollte ich ganz weit weg sein. Immer hin und her. Ohne Pause, auch im Schlaf, wenn ich schlafen konnte.“
„Hast du deswegen gesoffen?“
„Nein, dann wäre ich längst ein Wrack. In Peckovar gab es einen Mann, der gesoffen hat. Es war furchtbar, vor allem für seine Frau und die Kinder. So wollte ich nicht werden. Ich habe Sport gemacht, bis zum Umfallen. Wenn du fertig genug bist, träumst du nichts mehr. Ich wollte weglaufen, aber es hat nicht geklappt.“
Miloš – mein starker, unerschütterlicher Kumpel … Freund, verbessere ich mich in Gedanken – und weglaufen? Das macht mich fassungslos.
„Und … was versuchst du jetzt?“
„Nichts mehr.“ Er geht zurück zum Sofa und schaut glücklich. „Es hat aufgehört. In der Nacht vom dritten auf den vierten August.“
Am dritten August hat er mich nach meinem geheimnisvollen Gott gefragt. Jesus hat ihn als allererstes von dieser schrecklichen Last befreit. Danke, Jesus.