30. August 2015

202

„Willst du damit sagen, dass es nicht so wichtig ist, sich zu entschuldigen?“, fragt Lisanne. „Das seh ich aber anders.“
„Nein, sondern, dass Jeremy besser einen anderen Gitarrist sucht, auch wenn Simone die Entschuldigung annimmt.“
„Aber woher sollen wir vor dem Auftritt noch einen neuen Gitarristen herbekommen?“, fragt Merle. „Der muss in kurzer Zeit alle Lieder lernen und musikalisch wie menschlich zu uns passen – das schränkt die Auswahl schon ziemlich ein.“
„Und Bühnenerfahrung sollte er haben“, fügt Miloš hinzu.
Nachdem ich einen Moment lang darüber nachgedacht habe, sage ich „Nein.“
„Willst du irgendeinen Anfänger nehmen? Das ist doch wohl nicht dein Ernst! Außerdem haben wir noch haufenweise andere Dinge zu tun, Lieder proben, Setliste festlegen, die Fahrt organisieren, und so weiter und so fort!“
„Nein“, wiederhole ich. „Nein heißt, dass ich keine Gitarre mehr in der Band haben will. Versteht mich so: Es gibt tausend Millionen Bands mit Gitarre, Bass, Schlagzeug, Sänger und diversen Zusatzinstrumenten. Womit sollten wir uns von denen unterscheiden? Also machen wir es anders. Das Zusatzinstrument nimmt den Platz der Gitarre ein. Das Problem, das wir gerade haben, ist nicht, dass wir keine Gitarre haben, sondern dass wir glauben, anständige Musik bräuchte eine.“
Darüber denken jetzt die anderen einen Moment lang nach.
Lisanne ist die erste, die fertig gedacht hat. „Das ist nicht der einzige Fehler. Wir müssen noch mehr ändern. Wartet mal kurz.“ Sie geht nach drinnen, kehrt mit dem Akkordeon zurück und spielt dann eine einfache Melodie aus sechs Tönen.
Dabei singt sie: „Auf der Wiese hinterm Haus grasen zwei Ziegen. Es sind Böcke und meist haben sie sich gern. Der eine ist weiß, der andre ist schwarz, und wenn der Klee sie zwickt, fallen sie übereinander her. Sie beißen sich, sie stoßen sich, sie rammen die Köpfe zusammen, dass es dir vom Zugucken weh tut. Die Ziegenböcke heißen … ach denk dir doch was aus! Der weiße meckert den ganzen Tag freundlich vor sich hin, der schwarze rennt den ganzen Tag um die Wiese und ist zufrieden, wenn man ihn lässt. Eigentlich sind es nette Burschen, doch wehe, der Klee zwickt sie, dann fallen sie übereinander her. Sie beißen sich, sie stoßen sich, sie rammen die Köpfe zusammen, dass es dir vom Zugucken weh tut. Die Ziegenböcke kommen aus … ach denk dir doch was aus!“
„Wieso habe ich das Gefühl, das Lied geht über uns?“, murmelt Miloš grinsend.
„Das ist ja ganz lustig, aber es reimt sich nicht und hat kein Versmaß“, bemerkt Merle.
„Ich weiß. Aber das ist völlig egal. Was unsere Band ausmacht, ist nicht, dass wir unsere Instrumente perfekt beherrschen oder dass wir wahnsinnig geistreiche Texte haben oder eine ausgefeilte Bühnenperformance. Nein, wir haben Spaß. Wir mögen uns. Es kracht schon mal, vor allem zwischen euch beiden“, sie nickt zu mir und Miloš hin, „aber die Chemie stimmt. Deswegen ist es nicht wichtig, ob die Texte sich reimen oder die Melodien anspruchsvoll sind oder wir das beste Equipment haben. Ich sag dir, wenn das Publikum von der Spielfreude ange­steckt wird, können wir sogar Kleinkinderlieder spielen und alle rasten aus.“

201

„Ich habe die Wahrheit gesagt, nämlich dass du ein bekloppter Serbe bist, aber du hast Glück, ich mag bekloppte Serben.“
„Oh, es ist ein Kompliment!“ Freundlicherweise lässt er mich endlich los. „Du bist so rot im Gesicht, was ist passiert?“
„Ich bin heimlicher Kommunist!“
Von Miloš kommt kein Kontra und prompt lache ich ihn aus: „Haha, dazu fällt dir nichts ein, was?“
„Womit hab ich euch zwei Chaoten bloß verdient?“, fragt Lisanne mehr sich selber und liest Papier und Stifte auf.
Miloš sagt: „Alles Gnade, würde Jeremy sagen.“
Sage ich wirklich solche Sachen? „Sollen wir jetzt noch Musik machen?“, wünsche ich stattdessen zu erfahren und nehme das Schreibzeug an mich.
„Ach, eigentlich habe ich keine Lust“, gesteht Merle, „Erst recht, seit du das mit der Torte gesagt hast.“
In diesem Moment explodiert etwas direkt neben mir: Simone.
„Seid ihr jetzt alle total durchgedreht? Erst geht ihr zwei Knalltüten euch fast an die Gurgel, und dann ist alles gar nicht echt?! Bescheißt ihr mich womöglich schon länger? Ist vielleicht alles gar nicht echt und Cokko hat gar keinen Auftritt gewonnen? Weißte was“, wendet sie sich an mich, „Ich hab gleich gedacht, dass du nicht ganz sauber tickst, und der Miloš auch nicht. Genau deshalb wollte ich die Band verlassen, und stellt euch mal vor, das tu ich jetzt auch. Viel Spaß noch!“ Sie rauscht hinaus und knallt die Tür zu. Weil es ja eine Stahltür ist, haben alle im Gebäude was davon.
Dann murmelt Merle: „Das hört sich nicht so heiter an. Ich glaub, Jeremy, du hast jetzt ein Gitarrenproblem.“
„Zumindest ein Gitarristenproblem“, steht der Bassist wie üblich mit dem Senfeimer parat. „Simone wollte ja zuerst noch eine zweite Gitarre, aber jetzt könnten wir froh sein, wenn wir nur eine hätten.“
Ich zucke die Schultern und kratze mich am Kopf. So hatte ich mir den Ausgang des Theaters nicht vorgestellt. Dann räuspere ich mich und mache „Hm.“
Lisanne witzelt: „Das mag ich vor allem an dir, wenn du so einen energischen und tatkräftigen Eindruck vermittelst.“
„Sehr komisch.“ Ich gehe zum Fenster. Simone steigt gerade ins Auto und fährt vom Hof der Bäckerei.

Als wir vier Torte und Eis essend auf dem Balkon sitzen, fasst Merle ihre letzten paar Gedanken zusammen: „Eigentlich passt sie nicht besonders gut zu uns.“
Stimmt. Merle ist bereits nach wenigen Wochen besser integriert als das Gründungsmitglied Simone nach der ganzen Zeit, die es unsere Band nun schon gibt. Zu Anfang des gemeinsamen Schaffens war ich ja nicht besonders von ihr überzeugt, doch das ist vorbei. Ich kann mir mittlerweile keine bessere Ergänzung für meine Band vorstellen als unsere Brüll-Amsel.
„Habe ich auch gedacht“, nickt Miloš, „wir machen vielleicht gute Musik, aber ein gutes Team werden wir nicht. Wir sind alle gleich alt, und sie ist unter zwanzig, das ist zu jung–“
„Gleich alt? Diese alte Tante ist sieben Jahre älter als Jeremy und ich!“, lachend zeigt Lisanne auf Merle.
„Ja, Scheiße! Auf einmal bin ich das Nesthäkchen der Band!“, fällt mir auf.
„Nesthaken“, verbessert Lisanne. „An dir ist nichts -chen.“
„Warum, wie viel jünger als du ist er denn?“, will Merle von ihr wissen.
„Sechs Monate. Er hat ja erst im Oktober Geburtstag.“
„Außerdem ist es lästig, dass sie in Hoorn wohnt und so selten spontan herüber kommen kann oder will“, bringt Miloš seinen Satz zu Ende. „Deswegen ist es vielleicht besser, wenn du neuen Gitarrist suchst, statt zu Simone zu gehen.“

200

„Du kannst ja behaupten, ich wäre ein Weichei, aber bei mir wird so’n Scheiß jedenfalls nicht gespielt!“
„Jeremy!“, wirft Lisanne sich mutig dazwischen, doch wir beachten sie nicht.
„Es ist kein Scheiß!“, protestiert er böse.
„Ist es doch!“, erwidere ich genauso böse.
„Hört bitte auf“, versucht sie es wieder.
Miloš schiebt sie beiseite, „Ist es nicht!“ und reißt mir das restliche Papier aus der Hand, um es mit einem ausholenden Wurf im ganzen Raum zu verteilen.
Gleich platze ich. „Ist es doch!“, brülle ich ihn an, um Druck abzulassen.
„Ist es nicht!“ Die Stifte fliegen hinterher.
„Es ist Scheiß und damit basta!“
„Nein!“
„Miloš, aus!“, dröhnt Merle, die wohl langsam Bammel kriegt.
„Nein!“, brüllt er erst sie an, und dann mich: „Es ist kein Scheiß!“
„Doch!“ Mir gehen die Argumente aus.
Er hat auch keine besseren mehr, wie sich prompt beweist: „Nein!“
Also versuche ich einen anderen Weg. „Du wirst nicht von deiner Position abweichen?“
„Wofür habe ich eine Position, wenn ich dann doch nur tue, was du willst?“
„Okay, das reicht. Raus“, sage ich und verschränke die Arme.
„Jeremy, bist du wahnsinnig?“
„Was heißt das, raus?“, will er wissen.
„Das heißt: Geh jetzt bitte, wir wollen endlich anfangen zu proben“, erkläre ich.
„Wirfst du mich aus der Band, bloß weil ich einen anderen Musikgeschmack habe als du?“
„Richtig. Da ist die Tür.“ Ich zeige auf den Ausgang. Wie sollen wir eigentlich heute noch mal auf Normalnull kommen?
Miloš nimmt seinen Bass und geht zur Tür. Auf halbem Wege kommt er dabei an mir vorbei und packt mich am Kragen. „Das wirst du heimzahlen, du Käsekopf!“, knurrt er.
Dann ist er draußen.
Einen Moment lang starrt Lisanne mich ungläubig an. „Hormone? Oder Männerkoller?“
Merle empfiehlt: „Schlaft mal eine Nacht drüber, dann reden wir weiter.“ Die beiden verständigen sich mit einem Nicken zum geordneten Rückzug und räumen ihren Kram ein.
Simone folgt ihnen eilig und mit fast panischem Blick.
Sekunden später höre ich Miloš draußen im Flur etwas sagen und Merle „Waaas?!“ schreien. Vermutlich schwört sie mir gerade ewige Rache, aber das war es mir wert.
Während die vier wieder herein kommen, unternehme ich den Versuch einer Entschuldigung: „Sorry, Leute. Ihr könnt nachher alle zu mir kommen, ich hab gestern zwei neue Tortenrezepte ausprobiert, das kann ich nicht alles alleine aufessen.“
„Aber nichts mit Gemüse!“, fordert Miloš. „Bald habe ich Hasenzähne.“
„Geht das schon wieder los?“, fragt Merle. „Ganz ehrlich, zum Schluss hab ich ja gedacht, dass es ernst ist. Dass ihr euch wirklich gleich an die Wäsche geht. Sah ziemlich danach aus.“
„Liebste Merle, das war Absicht!“, kläre ich sie freundlich auf.
„Habt ihr euch vorher abgesprochen oder woher wusstet ihr, dass es Spaß war?“
„Ich wusste es nicht, aber ich kenne ihn“, erklärt Miloš und packt mich in den Schwitzkasten. „Wenn er so offensichtlich anders tickt als sonst, muss es wohl ein Spaß sein, he?“ Er zieht mir an den Ohren. „Wenn es ein Spaß ist, mache ich mit. Oder er ist extrem wütend, aber das merkt man ja auch schon vorm Streiten. Und dann hat er einen Grund.“
„Lass mich los, du Penner!“, kichere ich und winde mich.
„Was tust du, wenn ich es nicht tue?“ Er spaziert ein paar Schritte durch den Raum und ich muss notgedrungen mit.
„Ich schmeiß dich aus meiner Band!“
„Aha, öfter mal was Neues!“, lacht er und geht hin und her, „Das ist hier nur die Rache. Wie nennst du mich?“

199

Meine bereits jetzt reichlich vorhandene Nervosität überspiele ich mit allerhand Albernheiten, zum Beispiel bringe ich Schreibzeug und Papier mit und verteile die Sachen, damit jeder Gelegenheit hat, neue Lieder zu erfinden, auch wenn mir klar ist, dass man nicht auf Befehl kreativ sein kann. Bisher sind wir ja nur eine reichlich frei interpretierende Coverband, aber so möchte ich nicht auf die Bühne.
Merle ist wenig begeistert. „Glaubst du, dass das meine Kreativität anregt?“
„Ist das etwa keine anregende Umgebung?“
„Willst du es ehrlich wissen?“ Sie lässt mir gar keine Zeit zu antworten, „Nein.“
Miloš legt das Schreibzeug auf die Fensterbank und nimmt sich stattdessen den Bass.
„Was hast du vor?“, frage ich.
„Wonach sieht es aus?“, gibt er die Frage zurück.
„Sind wir zum Streiten gekommen?“, kontere ich.
„Nein, zum Musikmachen. Und nicht zum Schreiben. Hör zu.“ Er spielt eine Melodie an, die ich von früher kenne, sie ist aus dem Repertoire der Jesus-Pop-Band. „Wenn wir einen flotten Rhythmus dazu machen und du schreibst was, haben wir ein neues Lied fertig.“
„Diesen Mist kannst du in einer andern Band spielen wollen, hier nicht“, lege ich rigoros fest. Auch wenn das vielleicht nicht so aussieht, finde ich das Theater sehr lustig. Mal sehen, wie lange ich das durchhalte. (96)
„Aber hör zu“, fängt er an, „wenn du es so schnell trommelst wie andere Lieder, klingt es gut und nicht wie–“
„Nein“, würge ich ihn ab, „Das tu ich nicht und niemand sonst in dieser Band wird das tun, Miloš Kusturica!“
Die Mädels verdrehen schon die Augen, immerhin waren sie gekommen, um Musik zu machen und nicht zuzuhören, wie sich zwei übers Musikmachen streiten. Er jedoch hat noch nicht aufgegeben. „Aber–“
„Kein aber! Diese Diskussion hatten wir neulich schon! Und ich habe dir deutlich gesagt, was ich davon halte!“
Das war nämlich so, dass er einen unserer Hardrockklassiker mit Reggae würzen und als neues Lied servieren wollte. Lange ist er der Meinung, dass ordentliche Musik mit fetten Gitarrenriffs geht und mit schnellem Schlagzeug und so weiter, aber man muss damit rechnen, dass ihm irgendwann eine Laus über die Leber hüpft und dann ist auf einmal alles anders.
Ich habe nichts gegen Reggae, man kann ja ruhig mal ein bisschen langsamer spielen und wenn alle meinen, dass ein anderer Rhythmus an der Reihe ist, na gut, an mir soll es nicht liegen. Aber wenn dieser Kerl auf einmal hergeht und mir Pop als Hardrock verkaufen will, nur wenn man den Weichspüler-Kram schneller spielt – nee, so dumm bin ich einfach nicht, dass ich das nicht merken würde! Ich dachte, unsere Zeit in der Pop-Fraktion wäre vorbei. Doch es hilft nicht, denn der Sturkopf ist längst nicht fertig mit dem Thema. Er setzt erneut an. „Wie wäre es, wenn wir es versuchen? Du sagst immer, wenn etwas nicht klappt, muss man es versuchen, und wenn ich etwas nicht will, sagst du, ich soll es trotzdem tun! Du sagst, dass man sich nur so musikalisch weiterentwickeln kann, deswegen tue ich das auch!“
„Schön, dass du meine Inhalte so gut behältst, aber hier geht es um etwas ganz anderes! Ich habe kein Interesse daran, mich in die Vergangenheit zurück zu entwickeln. Wenn dir das hier alles nicht passt, geh doch zu Eelco!“
„Geh doch zu Eelco!“, äfft er mich nach, „Was anderes fällt dir nicht ein, he? Was machst du, wenn ich wirklich gehe?“
Aus dem Augenwinkel sehe ich die Reaktionen. Merle findet alles sehr unterhaltsam, Simone ist entsetzt und Lisanne ist sich offenbar nicht sicher, was sie von unserem Krach halten soll. Und Miloš – ach, wenn er sich auf den Schlips getreten fühlen würde, wäre er ja längst nicht mehr so locker!
Leider stachelt mich das erst recht an. „Du gehst sowieso nicht, du bekloppter Serbe“, reize ich. „Außerdem wolltest du immer auf die Bühne, und jetzt haben wir die Chance, also stell dich nicht so an!“
„Wir haben die Chance nur, weil Cokko verrückt genug war, da anzurufen, obwohl er gar keine Band hat! Der traut sich wenigstens mal was, aber du!“

198

Am nächsten Tag halte ich mich den ganzen Vormittag in der Schule auf, weil noch allerhand Papierkram zu erledigen ist. Als ich heimkomme, blinkt mir mein Telefon entgegen. Cokko bittet um Rückruf.
Vorher bereite ich mir erst etwas Essbares zu. „Hoi“, melde ich mich dann, „Du wolltest angerufen werden.“
„Brüderchen, setz dich hin oder halt dich an irgendwas fest.“
„Ich hab ein Käsebrot in der Hand, reicht das?“
„Weiß ich nicht. Entweder habe ich eine Riesendummheit gemacht oder dir zur großen Karriere verholfen.“
„Geht es eventuell etwas genauer?“, bitte ich.
Cokko atmet durch. „Eben war im Radio ein Gewinnspiel und es ging drum, dass eine Band, die noch keinen Plattenvertrag hat, einen Auftritt bei einem Festival gewinnen kann. Anko meinte, man kommt da sowieso nie durch, weil immer hunderttausend Leute anrufen. Ich wollte ihm bloß beweisen, dass man doch durch kommt. Ja, und jetzt hab ich gewonnen.“
„Das ist ja cool“, stelle ich trocken fest. „Aber warum telefonierst du noch mit mir, anstatt eine Band zu gründen, die da auftreten wird?“
„Sag mal, kapierst du das denn nicht?“, regt er sich engagiert auf, „Das ist deine Chance, mit den Donnerdrummels auf die Bühne zu kommen!“
Ich pruste laut heraus. „Denk dir mal, das war mir klar!“
„Puh … findest du es also gut?“
„Na ja, es kommt etwas überraschend … aber Miloš will schon seit der ersten Probe auf die Bühne und Merle hat auch schon gefragt, wann der nächste Auftritt sein wird … also von denen aus … wann ist das denn überhaupt? Wie heißt das Festival? Und wo findet es statt?“
Ich höre, dass er am Computer sitzt, die Tastatur klackert. „Ihr werdet beim Almere open air die ganz große Musikerkarriere starten.“
„Almere open air? Davon hab ich ja noch nie gehört“, werfe ich ein.
„Ich glaub, das ist nicht schlimm, hier kennt das auch keiner. Scheint ganz neu zu sein. Immerhin kennt Anko die meisten Bands vom Line-up, ich kann da nicht mitreden. Jedenfalls findet es am letzten Augustwochenende statt … ihr seid Samstagnachmittag dran als Einheizer für die Vorgruppe von den Hauptbands. Das sind … warte, wo hab ich denn das notiert … die Vorband heißt Voetbal is ons leven, die erste Hauptband ist Alan Poutsma Project und die zweite Star Club.“
„Die kenn ich“, unterbreche ich seine Ausführungen.
„Aha, und was für Musik machen die so?“
„Rock’n’Roll, aber mehr so für ältere Register. Die sind selber auch schon um die 60.“
„Das wird dann wohl ein Festival für die ganze Familie. Ich hab den Leuten von Delta 3000 gesagt, dass ich Jeremy van Hoorn heißen würde und es meine Band wäre, deswegen haben sie natürlich auch deine Adresse gekriegt. In den nächsten Tagen wird dich ein Carlos van Hoogedonk anrufen, das ist der Musikredakteur, und alles Wichtige losschicken. Ich hab das Telefonat aufgezeichnet, das Audio und die Links zum Festival und was du so brauchst hab ich dir schon gemailt, vielleicht gehst du heute Abend mal zu Pieter und guckst dir alles an.“
„Warum hast du das Telefonat aufgenommen?“
„Denk doch mal nach … wenn ich am Telefon behaupte, dass ich du wäre und hinterher redet der van Hoogedonk mit dir und du weißt von nichts? Das wär doch blöd.“
Manchmal ist mein Bruder mir unheimlich, weil er einfach an alles denkt. Zugleich. Ich würde vor Nervosität kein Wort rausbekommen und hinterher nicht mehr wissen, was ich gesagt hätte (ziemlich sicher wäre alles Unsinn und Gestammel gewesen).


sechsundsechzigstes Kapitel

Die nächste Stunde verbringe ich damit, die Band im Proberaum zu versammeln und mich zu freuen und zugleich Bammel zu bekommen. Ein richtiger Auftritt vor richtigem Publikum, das Geld bezahlt hat dafür, dass es was zu hören kriegt! Kein kostenloser Auftritt als Begleitung zu einer Zeltmission oder so etwas!

197

„Und die Stelle ist unbefristet! Becks und ich werden zusammen ziehen, wir haben schon eine Wohnung gefunden!“
So begeistert habe ich ihn sehr, sehr lange nicht erlebt. Und ich freue mich mit ihm! Außerdem ist IJmuiden wirklich nicht weit weg.
„Wie hast du die Firma denn gefunden?“
„Ganz pupsnormal über eine Anzeige in der Zeitung. Becks und ich waren Sonntag vor einer Woche bei ihren Eltern und als wir aufs Essen gewartet haben, hab ich in einer Zeitung geblättert. Da stand die Anzeige drin, als hätte sie auf mich gewartet. Gleich am nächsten Tag hab ich angerufen, die sagten, ich solle mal meine Unterlagen einreichen. Ich hab sie persönlich vorbei gebracht, wir hatten ein Gespräch und fertig. Einfach so. Heute haben sie angerufen, dass sie mich im Team haben wollen! Ich suche mehr als vier Jahre, und dann dauert es nicht mal zehn Tage!“
„Und was baust du dann?“
„Die Firma ist spezialisiert auf Autopiloten für große Jachten und kleine Personenschiffe. Wenn du also mal einen Autopilot in die Kaap Hoorn einbauen willst, wende dich vertrauensvoll an mich“, lacht er und ich lache mit.
„Da kann ich mir nun aussuchen, ob ich eher eine große Jacht oder ein kleines Personenschiff habe.“
„Ich würde sagen, du hast eine kleine Jacht.“
Jacht – das hat selten mal einer über den hundertjährigen Lastkahn gesagt. „Ich komm über die Kanäle her, schreib mir auf, wo der nächste Anlegeplatz ist! Aber was machst du dann mit dem Fahrradladen? Und hast du schon einen Nachmieter? Und genug Umzugshelfer?“, befasse ich mich lieber mit den aktuellen Fragen.
„Ach, du bist herzlich eingeladen dich zu beteiligen. Je mehr Leute kommen, desto schneller sind wir fertig. Und überhaupt! Ich bin so aufgeregt, ich glaub, ich kann gar nicht mehr richtig schlafen!“
Ich habe noch mehr Fragen auf Lager: „Ach, da fällt mir ein, bei der Strandfete bist du immer noch fest dabei? Oder willst du gerade dann umziehen?“
„Das wäre taktisch unklug. Ihr würdet die Strandfete ja nicht nur wegen meinem Umzug sausen lassen, oder? Nein, ich komme auf jeden Fall mit. Die Wohnung wird auch erst Mitte September frei, bis dahin werde ich in einer Pension wohnen und zum Wochenende hierher kommen. Das dauert also noch ein kleines Weilchen mit dem Umzug.“
„Kennst du schon jemanden in IJmuiden?“
„Becks kennt ein paar Leute. Die hat da mal gearbeitet. Aber die hat ja schon fast überall mal was zu tun gehabt. Und die Wohnung, Alter, die ist der Hammer. Die musst du sehen. Kein Vergleich zu meiner. Groß und hell und überall Parkett, kein Laminat oder so Zeug, hohe Fenster, eine Küche steht schon drin, der Vormieter hat sie vor fünf Jahren neu gekauft. Und die anderen Zimmer kriegen wir schon irgendwie voll mit Becks’ und meinen Sachen.“

Mittwochs bin ich wieder in Alkmaar, wo ich mit einigen Kollegen der MBB Inhalte der Naturpädagogik verinnerlichen kann und mein Bewusstsein dafür geschärft wird, wie wichtig die Natur für uns Menschen ist. Noch einmal wird unterstrichen, dass Bewegungsmangel die sensorische und motorische Entwicklung des Kindes einschränkt und diese Defizite nicht aufholbar sind.
Nachmittags wird dann endlich zur Tat geschritten und wir werden in kleinen Gruppen in die Natur eines Parks entlassen. Es gilt Pflanzenteile zu sammeln und kleine Denkaufgaben zu lösen. Dabei soll der Zusammenhalt in der Gruppe gestärkt werden. Nicht der Beste soll gewinnen, sondern die Gruppe, die am besten zusammen arbeitet.

196

„Versuch zwei: Atomphysiker.“ Schlau genug ist er dafür.
„Wie kommst du nur darauf? Falsch.“
„Versuch drei … wenn das auch falsch ist, sagst du es mir, ja?“
„Mal sehen“, hält er sich alle Möglichkeiten offen.
„Also, Versuch drei.“ Ich halte inne. Auf einmal kommt es mir seltsam vor, dass er so grinst. Der führt doch was im Schild! „Arzt?“, wage ich mich vor, obwohl ich weiß, dass es das nicht ist.
„Nein“, grinst er. „Das ist alles falsch. Denk doch mal nach, was mache ich jetzt?“
Eine verrückte Idee kommt mir in den Kopf. „Wolltest du etwa Lehrer werden?“
„Na klar“, lacht er, „Was denn sonst?“
Na ja, denke ich, so einfach war das nun wirklich nicht. Dann fällt mir aber auf, dass es sehr wohl so einfach gewesen ist, bloß habe ich die Augen nicht aufgemacht. Er hat pädagogisches Geschick, Führungsqualität, Geduld, er mag Kinder – was braucht ein Lehrer noch? „Wenn du Unterrichtshelfer wirst, kannst du an der Pabo studieren“, empfehle ich, „und hinterher wirst du mein Kollege an der MBB.“
„Das hättest du gerne“, sagt er.
„Ja, das hätte ich in der Tat gerne“, sage ich.


fünfundsechzigstes Kapitel

Miloš ist zur ersten Fortbildung in der Pabo nicht mit dabei, und das ist sein Glück. Zwar ist sie natürlich viel interessanter, aber weil ich zwei ehemalige Studienkolleginnen treffe und wir uns verquatschen, komme ich erst spät Abends zurück. Das wäre nicht besonders unterhaltsam für ihn geworden.
Ich bin noch nicht lange wieder zuhause, als es an der Tür klingelt. Weil ich die eben ins Schloss gezogen habe, schließlich ist um diese Uhrzeit niemand mehr wach im Haus, galoppiere ich so leise und so schnell es geht hinunter in den Hausflur, um nach des späten Besuchers Begehr zu fragen.
Es ist Pieter, und sein Begehr ist, eingelassen zu werden. „Bist du allein zuhause?“, fragt er, während wir rauf gehen.
„Wer sollte außer mir noch da sein?“, frage ich zurück. Seit Cokko studiert, bin ich abends öfters allein.
„Was weiß ich, wer bei dir rumhängen könnte“, sagt mein Kumpel, „Miloš zum Beispiel. Der ist ja ziemlich häufig hier.“
„Na ja gut, jedenfalls ist keiner da“, löse ich das Ratespiel auf und wünsche stattdessen zu erfahren: „Worum geht’s denn?“
Er macht es spannend und wartet, bis wir uns in der Küche niedergelassen haben. Wenn es nun mal länger dauern soll, biete ich ihm ein Bier an; weil er nickt, nehme ich noch ein zweites für mich aus dem Kühlschrank und schaue ihn dann erwartungsvoll an.
„Stell dir vor – ich hab einen Job.“
Wenn Pieter einen Job hat, heißt das nicht, dass er Tussis im Fitnessstudio bespaßt oder Fahrräder repariert. Ein Job befasst sich mit nur einer Tätigkeit, nämlich Mechatronik.
Ich kann das gar nicht richtig erfassen. So lange hat er danach gesucht, und jetzt teilt er es mir einfach so mit, ohne Jubelfanfaren und Konfettikanone? Dann kommt mir ein schrecklicher Gedanke. Er hat sich ja nicht nur im Umkreis von 50 Kilometern beworben, eher im Gegenteil. Gleich wird er sagen, dass dieser Traumjob alptraumhaft weit weg ist. Womöglich ist er nur per Flugzeug auf einigermaßen schnellem Wege zu erreichen. Neuseeland zum Beispiel.
„Wo?“, wispere ich, weil meine Stimme auf einmal weg ist.
„In IJmuiden!“, schreit er fast.
„Wie krass!“
„Und das, wo ich mich überall in Europa beworben habe!! Und denk dir, ich soll schon am elften August da anfangen.“
„Voll cool!“

195

Wir segeln eine Weile so dahin, bis mir noch etwas einfällt: „Wo ist dein Vater jetzt?“
Er zuckt die Schultern. „In Banja Luka haben wir ein paar Mal Freunde getroffen, die ihn gesehen haben oder Leute aus seiner Einheit, aber alle sagten was anderes. Keiner weiß, wo er ist. Vielleicht ist er tot, vielleicht ist er untergetaucht, weil er zu viele Kinder erschossen und Frauen vergewaltigt hat. Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“
„Das klingt ja nicht so lustig“, sage ich, was ich denke.
Miloš brummt bejahend. „Ich hätte nach ihm suchen können. Ich hätte sogar nach Peckovar fahren können, vielleicht lebt er wieder da und vielleicht hat er eine neue Familie angefangen. Ich weiß ja nicht, ob er weiß, dass wir noch leben. Und wo wir sind. Das wäre einfach zu lösen, aber schwierig ist, dass ich nicht weiß, ob ich will, dass er das alles weiß. Und dann hierher kommt. Auf der einen Seite könnte ich endlich mein Leben ohne meine Mutter machen. Auf der anderen Seite ist es vielleicht ganz gut, wenn er bleibt, wo er ist. Er hat bestimmt viele Sachen gesehen und getan, die nicht hier hin passen. Mein Vater hat viel mehr erlebt vom Krieg, ich weiß nicht, ob er dann einfach hier leben kann, wo seit sechzig Jahren Frieden ist und fast niemand mehr an den letzten Krieg denkt.“
Noch eine Frage kommt mir in den Sinn: „Magst du ihn?“ Bis jetzt hat er eher neutral über ihn gesprochen.
„Wen, meinen Vater?“, fragt er nach, als wäre es abwegig, so etwas zu denken.
Ich nicke.
Es scheint keine leichte Frage zu sein, denn er lässt sich viel Zeit mit der Antwort. Irgendwann sagt er: „Was ist mit deinem Vater? Wir reden hier über meinen Vater … deinen habe ich auch noch nie gesehen.“
Du lenkst ab. „Doch, hast du. Er ist bei einigen Auftritten der Jesus-Pop-Band gewesen. Er wohnt in Alkmaar mit Marjorie und dem kleinen ABC, das sind meine Halbbrüder. Die hast du auch alle schon gesehen. Übrigens wolltest du mir erzählen, ob du deinen Vater magst.“
Miloš grinst über mein Manöver. „Na ja, als Kind … als Kind magst du deinen Vater. Du willst werden wie er, wenn du groß bist. Aber“, das Grinsen verschwindet wie ausgeknipst. „Nein. Nein, ich mag ihn nicht. Und ich will auch nicht, dass er hier hin kommt. Ich will ihn nie wieder sehen.“
Das ist eine harte Ansage. „Woran liegt das?“
„Ein Beispiel: Ich hatte die Schule fast fertig und wollte in Belgrad das Abitur machen, um dann zu studieren. Ich hätte das auch zuhause machen können und dann in Banja Luka studieren, aber ich wollte ein bisschen weiter weg. Von uns nach Banja Luka sind es ungefähr fünfzig Kilometer, nach Belgrad zweihundertfünfzig. Ein Freund wäre mitgekommen, der auch studieren wollte, ich wäre nicht alleine gewesen. Wir sind nach Belgrad gefahren, um ein Zimmer zu mieten und uns an dem Gymnasium umzusehen, damit wir uns nach den Schulferien auskennen. Als ich wieder zuhause war, sagte mein Vater: Du gehst morgen zu Onkel Gojko und fängst die Lehre an. Ich hatte ihm vorher gesagt, was mein Freund und ich vorhatten. Er wusste das, aber es hat ihn überhaupt nicht interessiert. Er hatte beschlossen, ich sollte Automechaniker werden, also wurde ich es.“
„Bist du Automechaniker? Ich dachte, du hättest keinen Beruf.“
„Habe ich auch nicht. Der Krieg kam dazwischen.“
Diese Katastrophe geht mir furchtbar auf die Nerven. Sämtliche Staaten des ehemaligen Jugoslawiens sind in die Steinzeit zurück verfallen, bloß weil Menschen plötzlich dazu angeheizt wurden, ihre Nachbarn zu erschlagen.
„Was wolltest du denn studieren?“
Jetzt schaut er mich an und sein Grinsen ist wieder da. „Rate – was wollte ich studieren?“
Oh, denke ich. Das ist kompliziert. In Prinzip kommt alles in Frage, von Philosophie bis Luft- und Raumfahrttechnik. „Wie viele Versuche hab ich?“
Er grinst noch mehr. „Drei.“
„Versuch eins: Sportwissenschaftler“, stürze ich mich in das Abenteuer. Schließlich macht er gerne Sport!
„Falsch.“

194

Während der Rückfahrt überkommt mich vom ganzen Stillsitzen und Langweilen und Wegsehnen eine derartige Müdigkeit, dass ich Miloš erst ein paar Mal angähne und mich dann in meine Ecke verkrieche, die Augen zu mache und kurz darauf eingeschlafen bin.
Vor dem Bahnhof Hoorn, in dem wir umsteigen müssen, weckt er mich, aber er hat nicht viel davon, dass ich jetzt wach neben ihm sitze, denn mir fällt nicht mehr als „Hm“ ein, wenn er was zu mir sagt.

In Zuyderkerk angekommen holen wir unsere Fahrräder, und das Stück Straße, bis sich unsere Wege trennen, radeln wir nebeneinander her.
An der Straßenecke, wo ich links abbiege und er weiter geradeaus muss, fällt mir endlich mal was Nettes ein. „Hast du Bock, gleich eine Runde mit segeln zu gehen?“, frage ich.
„Klar. Wann fährst du los?“
„Ich esse zuhause was und dann geht’s direkt los, dachte ich.“
Miloš nickt. „Klingt gut. Also am Pier in einer halben Stunde ungefähr … oder wann?“
Mir fällt noch etwas Nettes ein. „Komm mit zum Essen.“
„Klingt auch gut“, freut er sich und so fahren wir zusammen weiter.

Wie gut, dass wir nur bis 16 Uhr in dieser meines Erachtens völlig bildungsfreien Fortbildung sitzen mussten! Der Rest des Tages entschädigt mich leicht für die drögen Stunden in Amsterdam. Das IJsselmeer zeigt sich von einer ausgesprochen hübschen Seite und der Wind trägt uns rasch vom Festland weg.
Verzückt schaue ich nach oben.
Ach, dieser Himmel!
Er ist so hoch und so weit und wo Luft und Wasser ineinander fließen, scheint er fast unendlich zu sein. Blau und grün schimmert das Meer, überzogen von einem Netz silbern glitzernder Wellen – jede Minute neu, jede Sekunde anders. Das liegt am Licht, und das wechselt ständig vor unserem schönen Himmel, der keinen Horizont kennt. Gerade hat der Wind noch dicke Wolken vor sich hergetrieben und sie zu einem gewaltigen Gebirge zusammengeballt, da kommt schon wieder die Sonne durch, spreizt ihren Strahlenfächer über dem Wasser, dass das Meer aufleuchtet wie auf einem Gemälde Jan Vermeers.
Vor einigen Jahren bin ich mit Helena, Marjorie und Gerrit in der Alkmaarder Gemäldegalerie gewesen, da hatten sie eine Sammlung von Seeansichten aus dem 17. Jahrhundert ausgestellt. Gerrit hat mich gefragt, warum ich junger Kerl auf solche alten Schinken stehe.
Ganz ehrlich, wie soll ich ihm verständlich machen, was ich an den Bildern finde, wenn er nicht mal versteht, warum ich so gerne segeln gehe?

Inmitten dieser allumfassenden maritimen Idylle wundert es mich ziemlich, dass Miloš irgendwann aus wortwörtlich heiterem Himmel sagt: „Manchmal bin ich echt neidisch.“
„Auf wen? Und warum?“, wünsche ich zu erfahren.
„Weil hier alles so schön ist. Hier sind alle ohne Krieg aufgewachsen, außer die alten Leute. Manchmal denke ich, warum können nicht alle hier aufwachsen? Warum musste mir das passieren, dass ich den Krieg erlebt habe? Warum bin ich nicht woanders zur Welt gekommen?“
Das sind schwierige Fragen, auf die ich leider keine Antwort weiß. Ich muss gestehen, dass ich darüber noch nie nachgedacht habe. Dankeschön, Gott, denke ich verlegen, dass ich in Frieden aufwachsen konnte.

193

Man kriegt nicht viel Geld vom Arbeitsamt, wie ich von Pieter und einigen unserer Eltern weiß, aber gar keins – das ist schlimm. Natürlich zahlt der Staat die Wohnung und Sozialhilfe für Frau Kusturica. Aber das reicht ja kaum für eine Person, geschweige denn für zwei. „Seit wann lebst du am Existenzminimum und ich merke nichts davon?“
Unwillig winkt er ab.
„Sag es bitte.“
Er guckt mich nicht an, als er die Worte hinwirft: „Willst du mir auch sagen, dass ich betteln gehen soll?“
„Nein“, sage ich leise. „Ich will mich schämen. Weil ich nicht gemerkt habe, dass es dir schlecht geht.“
Immer noch ohne mich anzugucken sagt er schließlich: „Seit Dezember.“
Alles passt. Während seiner Zeit in der Jesus-Pop-Band hat er oft nach Schlägerei ausgesehen. Dann hat er die Band verlassen und ist von der Bildfläche verschwunden. Wer kein Geld hat, treibt sich lieber nicht in der Öffentlichkeit rum, wo alles etwas kostet. Das hat erst ein Ende gefunden, als er fast drei Monate später Cokkos Bekanntschaft gemacht hat.
„Warum habe ich so lange gebraucht, um niederländisch zu lernen?“, redet er von etwas anderem. „Das war zur Hälfte, dass ich nicht bleiben wollte und zur anderen Hälfte, dass ich keine Niederländer kannte. Erst als ich dich getroffen habe, ist das besser geworden. Du hast immer viel mit mir geredet, egal ob ich etwas verstehe. Jetzt will ich auch bleiben.“
Der Job an der Schule muss für ihn der sprichwörtliche Sechser im Lotto sein, geht mir plötzlich auf. Endlich ist nur Wissen gefragt – und seine Herkunft ist total egal. Und deshalb, erleuchtet ein weiteres Licht mein Inneres, war es auch so wichtig für ihn zu wissen, ob ich Djamila gesagt hatte, dass er bosnischer Serbe ist. Djamila ist ein muslimischer Vorname! (95)

Das Seminar ist zum Gähnen langweilig und hält überhaupt nicht das, was ich mir davon versprochen hatte. Wie befürchtet, geht es nur um die Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen und die Arbeit uns Pädagogen aufhalsen. Natürlich gibt es solche Eltern. Aber man darf das nicht pauschalisieren, denn den paar Eltern steht eine schweigende Mehrheit von Vätern und Müttern gegenüber, die sich jede nur erdenkliche Mühe geben, um ihrem Nachwuchs den Einstieg ins Erwachsenenleben zu erleichtern.
Erschwerend kommt hinzu, dass ich mich kaum konzentrieren kann. Draußen ist allerwunderschönstes Sommerwetter, kleine Wölkchen segeln über den knallblauen Himmel. Jetzt draußen auf dem Wasser … Salz in der Nase … Brise im Gesicht … Möwen auf dem Wind … das Rauschen der Wellen … und ansonsten gar nichts, was mich vom Wohlfühlen ablenkt …
Schweren Herzens verlasse ich meinen Tagtraum und beschließe, mir ein Beispiel an Miloš zu nehmen. Der hört die ganze Zeit aufmerksam zu. Hin und wieder macht er sogar Notizen.
Wer von uns beiden ist denn hier der Lehrer? Ich setze mich aufrechter hin und schlage die aktuelle Seite auf. Der Vortragende ist mir schon wieder drei Seiten voraus gewesen! Das darf mir echt nicht passieren, schließlich hat die Schule meine Teilnahme bezahlt, und bis jetzt war das kein besonders gut investiertes Geld.
Doch es dauert gar nicht lange (keine Ahnung, wie lange, ich habe nicht auf die Uhr geguckt), da bin ich wieder gedanklich auf dem IJsselmeer unterwegs.
Wenn ich bloß wüsste, was er da so eifrig mitschreibt! Leider haben wir keine benachbarten Stühle bekommen, er sitzt ein paar Meter schräg vor mir. Wir waren nämlich heute morgen etwas spät dran und mussten Plätze nehmen, die noch frei waren. Was fällt den Leuten eigentlich ein, nur noch einzelne Stühle frei zu lassen? Aber nachher ist Mittagspause, vielleicht schaffen wir es danach, nebeneinander zu sitzen.
Die einzige Abwechslung, die mich von meinen Segelträumen ablenkt, ist ein Rollenspiel. Der Seminarleiter bestimmt mich zum Vater eines Kindes, das in der Schule nicht mitkommt.
Ich gebe mir ein bisschen Mühe, nicht gar so pädagogisch wertvoll zu sein und der einigermaßen unwillige Vater gelingt mir recht gut, schätze ich. Zumindest meine schauspielerischen Fähigkeiten werden durchaus erkannt und honoriert, als ich wieder zu meinem Platz zurück darf. Dabei komme ich an Miloš vorbei und werfe einen Blick auf seine Notizen – und ich muss echt an mich halten, um nicht laut loszulachen. Mit großem Talent zeichnet er windschnittige Autos, an denen nackte Frauen lehnen und garniert das mit kurzen Zeilen kyrillischer Buchstaben. Das kann wer weiß was heißen. Ich nehme aber an, dass es nicht viel mit Pädagogik zu tun hat.

192

„Bis sie sich zuhause fühlte, eine Arbeit gefunden hat, noch eine andere Freundin, vielleicht ein neues Hobby. Was macht es denn sonst aus, ob du dich irgendwo zuhause fühlst? Das ging ganz gut voran. Aber als ich ihr sagte, nun bist du eingewöhnt, ich gehe zurück, ist sie schlimm krank geworden. Ich kann sie nicht alleine lassen, wenn sie im Krankenhaus ist, auch wenn sie hundert Freundinnen da hat. Also habe ich gewartet, bis sie wieder gesund war. Dann habe ich gesagt, dir geht’s wieder gut, ich will endlich nach Hause und sie ist wieder krank geworden. Ein ganzes Jahr ist das so gegangen. Dann ist die Freundin gestorben, ganz plötzlich, und ab da wurde es nur schlimmer.“ Für ein paar eilige Eisenbahnkilometer schaut er aus dem Fenster.
„Aber da war ich ja schon ein Jahr lang hier und kannte niemanden und hatte nur meine Mutter, wenn sie gesund ist und sonst noch weniger Leute. Da habe ich nur unsere Zeitung gelesen, unser Fernsehen geguckt und mit Landsleuten geredet. Aber man muss ja auch arbeiten. Ohne Sprache? Schwierig! Also hatte ich Jobs in Fabriken, Sachen sortieren, zusammen bauen, verpacken, oder in der Landwirtschaft, wo man nichts denken muss, nur tun, was der Vorarbeiter sagt.“ Nach einer weiteren Pause schließt er: „Keine gute Zeit.“
„Kein Wunder bei solchen Arbeitsstellen.“
„Das hatte nichts mit den Arbeitsstellen zu tun. Hast du von Srebrenica gehört?“
Ich nicke. Kaum ein Niederländer, der den Namen der ostbosnischen Stadt nicht kennt. Srebrenica ist eine nationale Tragödie für uns geworden. (94)
„Du weißt, was da passiert ist?“
Ich nicke wieder. „Warst du auch da?“
„Nein.“ Er atmet tief durch. „Ich war nicht im Krieg. Ich bin zur Musterung bestellt worden, aber ich habe gesagt, dass ich … wie sagt man … dijabetes melitus?“
„Heißt bei uns genauso. Diabetes Mellitus.“
Er nickt. „Ich hatte vorher schon geübt, die Spritzen zu setzen und bei der Musterung hatte ich so viel Angst, dass ich ganz von selber gezittert habe. Hinterher hätten sie mich bestimmt noch eingezogen, aber da waren wir schon untergetaucht.“
„Ist das nicht ziemlich ungesund, Insulin zu spritzen, wenn man keins braucht?“
Er schnaubt. „Krieg ist noch ungesünder.“
Stimmt. „Aber was hat das mit deinen Arbeitsstellen zu tun?“, suche ich den roten Faden.
„Wegen Srebrenica werden wir bosnische Serben von sehr vielen Moslems gehasst. Natür­lich wehre ich mich, wenn ich angegriffen werde. Der Vorarbeiter kommt, sieht die Prügelei, fragt, wer angefangen hat, und weil meist die Moslems in der Mehrzahl sind und nicht die Serben, sagen sie, ich hätte angefangen. Natürlich ohne Grund, einfach so. Also fliege ich raus. Irgendwann fangen die Chefs an, bei anderen Chefs nachzufragen, warum es immer Ärger mit mir gibt. So kommt mein Ruf, dass ich ein schlechter Typ bin.“
„Warum hast du das denn nicht richtig gestellt? Du hattest doch nicht angefangen?“
„Mit welcher Sprache hätte ich das tun sollen?“, schnappt er. „Deswegen bekomme ich keinen Job mehr. Das Arbeitsamt sagt, wer immer Streit macht, braucht kein Geld von uns. Pech gehabt.“

191

„Und du kannst sowas?“
Jetzt lacht er. „Natürlich! Ich bin damit aufgewachsen.“
„Aber du schreibst doch sonst mit den normalen Buchstaben?“
„Mit der lateinischen Schrift bin ich genauso aufgewachsen. Wenn es schnell gehen muss, schreibe ich allerdings so.“ Er tippt auf das Gedicht.
„Versteh ich nicht.“
„Pass auf, das ist so: Serbokroatisch ist die Hauptsprache Jugoslawiens gewesen. Es setzt sich zusammen aus Serbisch, Kroatisch und Bosnisch. Die Hauptschrift war die lateinische. Deswegen haben die Serben vor dem Krieg auch viel lateinisch geschrieben. Wir waren doch ein Jugoslawien, da kannst du nicht zwei Sprachen und so haben.“
„Aha. Aber nach dem Krieg, da geht das mit zwei Sprachen und zwei Schriften und Republika Srpska und so weiter und jeder kocht sein eigenes Süppchen, he?“ (93)
„Nein, da geht das auch nicht“, sagt er und klingt müde. „Das Land wird so lange im Stillstand sein, bis die Serben sich mit den anderen einigen. Sonst haben sie keine Chance.“
Und das aus dem Mund eines bosnisch-serbischen Patrioten!


vierundsechzigstes Kapitel

Die erste Juliwoche ist dieses Jahr etwas ganz Besonderes für alle Schulkinder: Die großen Ferien fangen an!
Bis zu meinem Jahresurlaub dauert es noch ein kleines Weilchen. Zuerst habe ich einige Fortbildungen, die mich die kommenden drei Wochen beschäftigen werden. Die erste findet in Amsterdam statt und die übrigen in meiner guten alten Pabo in Alkmaar.
Miloš gibt vor, brennend an der ersten interessiert zu sein und fährt mit.
Er ist mir ein bisschen unheimlich geworden, weil er auf einmal ständig mit Büchern unterwegs ist, und dann nur so philosophisches Zeug. „Leichtigkeit des Seins“ und so. Von wegen, das ist gar nicht leicht, ich hab versucht es zu lesen!
Lehrer und Schüler haben sich darauf geeinigt, die Zusammenarbeit in Godfrieds Ruhestand fortzusetzen. Das hat der alte Lehrer mir erzählt – Dienstgeheimnis hin, Dienstgeheimnis her. Viele Fragen ergäben sich daraus, dass Miloš einmal pro Woche die georgische Familie besuche (ich wusste gar nicht, dass er das tut) und dort an der überwiegend sprachlichen Integration mithelfe. Am liebsten sprächen sie aber über Politik und Geschichte ihrer beiden Nationen.
Godfried klingt wie ein stolzer Vater, wie er so von seinem klugen Schüler schwärmt. Das macht mich froh, denn in einer liebevollen Umgebung lernt es sich gleich doppelt gut. Eins verstehe ich jedoch nicht: Wenn ihm das alles so wichtig ist – wieso hat er dann fast vier Jahre gewartet, bis er sich zu dieser Integrationsmaßnahme aufgerafft hat?

Die passende Gelegenheit, danach zu fragen, ergibt sich schon eine Woche später, als wir auf dem Weg nach Amsterdam sind. Das Thema lautet: „Der richtige Aufbau eines Elterngesprächs zur optimalen Förderung des Kindes“, und ich hoffe, es geht nicht nur um die Eltern, die nichts tun und die Erziehung ihres Kindes den Lehrern überlassen.
Der Zug von Zuyderkerk nach Hoorn ist völlig überfüllt und an eine Unterhaltung kann man vielleicht denken, aber sicher nichts davon hören. Doch in unserem Anschlusszug ist mehr Ruhe und wir haben sogar zwei Sitzplätze nebeneinander gefunden.
„Das ist eine lange Geschichte. Es fing damit an, dass meine Mutter aus Srpska ausreisen wollte. Sie hatte eine Freundin von früher, die schon ein paar Jahre hier in Zuyderkerk wohnte, da wollte sie hin. Die Freundin hatte sie eingeladen zum Bleiben. Sie hat so gebettelt, dass ich mitgekommen bin. Nur zur Eingewöhnung, hat sie gesagt. Deswegen habe ich mich nicht um einen Sprachkurs gekümmert. Ich dachte ja, ich habe nur einen kurzen Aufenthalt.“
„Wie kurz sollte der Aufenthalt denn sein?“

190

Inzwischen kann ich meinen Bruder besser sonntagabends zum Bahnhof bringen. Er hat jetzt zweimal das Wochenende bei mir verbracht und ich komme mir nicht mehr ganz so verlassen vor.
Nach einem wunderbaren Tag zusammen mit meinem Bruder und Pieter (92) kommt Miloš montags in der Mittagspause und holt mich ab, weil er weiß, dass ich heute nicht mit Pausenaufsicht dran bin.
„Wo willst du hin?“, erkundige ich mich bei ihm, während ich seiner Anweisung folgend mein Mittagsbrot einpacke.
„Es ist schönes Wetter und du fragst, wo ich hin will?“, gibt er die Frage grinsend zurück.

Für die Mittagspause eignet sich am besten der Jachthafen, er ist nicht weit weg und man kann in Ruhe Schiffe angucken. Allerdings: „Und was wolltest du wirklich hier?“, bohre ich nach. „Letzte Woche war auch schönes Wetter und du hast jedes Mal in der Schule gegessen.“
„Stimmt“, macht er, als habe er das ganz vergessen. Statt meine Neugierde zu befriedigen, lehnt er sich zurück und genießt die Sonnenstrahlen.
Weil das eine gute Idee ist, tue ich es ihm nach.

Nach ein paar Minuten sagt er beiläufig: „Ich hatte ein Gespräch mit Herrn Kolijn.“
„Aha“, mache ich. „Was wollte er?“ Wouter Kolijn ist gemeinsam mit Jenny Walraven die pädagogisch-betriebswirtschaftliche Doppelspitze unserer Schulleitung.
„Die Schule hat vielleicht noch mehr Jobs für mich.“
„Sag bloß?“
„Hilfe für Hausmeister“, zählt er an den Fingern auf, „Busfahrer für Rollstuhlkinder, Hilfe im Sportunterricht. Um Busfahrer zu werden, muss ich aber erst den Führerschein machen.“
Auf diesem Wege kann Miloš sich unverzichtbar für die MBB machen! Mann, Jesus, das hast du echt toll eingefädelt!
„Warum hast du eigentlich keinen?“, fällt mir ein, „Oder besser gefragt, warum bist du hier plötzlich Fußgänger, wenn du in Bosnien so viel durch die Weltgeschichte gefahren bist?“
„Wenn du innerhalb der EU bist, hast du viele Vorteile, aber von draußen ist fast alles schwierig. Meine bosnische Pappe ist hier nichts wert. Und bisher hatte ich kein Geld, um einen neuen zu machen.“
„Ach ja, Mist. Tschuldigung.“ Dabei fällt mir ein: „Hast du dich inzwischen mal mit Godfried getroffen?“
„Ja, haben wir, du weißt das nicht?“, fragt er erstaunt, „Ich dachte, Godfried und du, ihr seid Kollegen, ihr redet darüber?“
„Nein“, antworte ich nicht weniger erstaunt, „Warum sollte Godfried mir erzählen, welche Fortschritte seine Schüler machen? Stell dir mal vor, es gibt Dienstgeheimnisse unter uns. Ich werde ihn auch nicht nach eurer Zusammenarbeit fragen, denn wenn ich es wissen will, frage ich dich und nicht ihn.“
„Das erste Treffen war schon in der Woche, als du uns vermittelt hast.“
„Und was sind die ersten wichtigen Themen?“
„Schulwissen. Das wird auch noch eine Weile so bleiben, denke ich. Das Schöne an unserer Zusammenarbeit ist, dass Godfried sich auch sehr für mich interessiert. Er will keinen Schulun­terricht machen, sagt er, dass er redet und ich zuhöre, sondern er fragt viele Dinge zu Bosnien, wir finden Parallelen und Unterschiede. Hier, guck, das hat er gestern geschrieben.“ Er gibt mir ein Blatt mit acht Zeilen seltsamer Zeichen.
„Aha. Was ist das?“
„Die erste Strophe eines serbischen Gedichts.“
„Auf russisch?“
„Hör doch zu, was ich sage“, rügt er, „serbisch! Die Russen schreiben auch mit der kyrilli­schen Schrift, ebenso Mazedonier, Bulgaren und einige andere Völker.“

189

Einen Satz Klötzchen brauche ich allerdings nicht für andere Kinder, sondern der liegt seit Fertigstellung hübsch verpackt in einem meiner Werkstattschränke. Das Päckchen soll in Rotterdam geöffnet werden, von einem anderen werdenden Ingenieur.
Cokko zieht nämlich schon jetzt, Anfang Juni, dorthin um. Ich habe keine Ahnung, wie er das immer macht, jedenfalls hat er einen Job gefunden und kann auch schon in der WG unterkommen, die er sich vor einem Monat angeguckt hat, weil ein Student früher als geplant ausgezogen ist.
Ich könnte das nicht, in einer fremden Stadt, in der ich erst einmal war, mit Leuten, die ich nie zuvor gesehen habe, einen Job vereinbaren – vielleicht liegt das daran, dass ich ein Landei bin. Rotterdam ist nicht so wahnsinnig groß, es hat bloß um die 600.000 Einwohner, aber mir ist es entschieden zu groß. Viel zu viele Straßen, Autos und Menschen tummeln sich da, es ist zu laut und zu viel passiert gleichzeitig.

Am Umzug beteilige ich mich selbstverständlich, egal wie groß die Stadt auch ist.
Pieter hat uns sein Auto geliehen, er selber konnte leider nicht, weil er zu einem Vorstellungsgespräch nach Südengland unterwegs ist. Hoffentlich klappt es! Ich wünsche es ihm so sehr, auch wenn wir uns dann kaum noch sehen können. Allerdings wird London täglich von Rotterdam aus angefahren, das dauert drei oder vier Stunden. Ein Katzensprung.
Cokko hat zum Glück nicht viele Sachen, denn die Treppen bis in den fünften Stock werden bei jedem Aufstieg steiler und endloser. Leider sind auch alle übrigen Mitglieder der WG außer Haus, sodass niemand beim Tragen helfen kann. Außerdem hätte ich sie gerne zu Gesicht bekommen.
Und dann wird es ganz fürchterlich. Wir stehen unten vorm Haus, der Verkehr tost auf der zweispurigen Straße und vor mir liegt die Autofahrt nach Hause, in Zuyderkerks Ruhe. Und in die Einsamkeit meiner Wohnung. Vermutlich werden wir uns erst zur Strandfete wieder sehen. In zwei Monaten. Acht Wochen. Entsetzlich vielen Tagen.
Vermutlich gucke ich entsprechend, denn Cokko nimmt mich in den Arm und streichelt über meinen Kopf. „Soll ich dich heute Abend anrufen?“, fragt er.
Ich nicke.
„Soll ich vielleicht jeden Abend anrufen?“
Ich nicke erneut.
„Und sollte ich zusätzlich, bis du dich wieder an deine Single-Wohnung gewöhnt hast, jedes zweite Wochenende nach Hause kommen?“
„Jahaaa“, dehne ich.
„Warum hast du mich das dann nicht längst gefragt, sondern guckst nur, als würde ich zum Mars fliegen?“
„Na ja“, stammele ich, „weil du das ja für Simone auch nicht tun wolltest, und mit der warst du immerhin zusammen, und ich bin ja bloß dein Bruder.“
„Falschrum“, sagt er. „Mit Simone war ich bloß zusammen, du bist aber immerhin mein Bruder. Warum glaubst du nur, dass es eine Zumutung ist, Zeit mit dir zu verbringen?“
Darauf fällt mir nichts ein.
„Ganz im Gegenteil. Du bist angenehme Gesellschaft. Ich hänge gern mit dir rum.“
Noch mehr davon und ich fange an zu heulen, hier, auf offener Straße, mitten in der zweitgrößten Stadt des Landes.
„Aber jetzt fährst du besser nach Hause, damit du nicht noch in den Feierabendverkehr gerätst. Ja? Und heute Abend ruf ich dich an.“
Ich nehme ihn feste in den Arm und steige dann eilig ein, damit er nicht sieht, ob ich nasse Augen habe oder nicht.

Ohne größere Unterbrechungen fahre ich zurück; das Auto findet den Weg fast alleine.
Und bevor ich mich so richtig einsam fühlen kann, ruft Cokko schon an und fragt, ob ich gut angekommen bin und noch so dies und das.
Den nächsten Tag (es ist ein Sonntag) verbringe ich mit Mommi und dann stürze ich mich in den Schulalltag, die Bandproben, das Segeln, die Treffen mit Pieter und Becks bzw. mit Pieter ohne Becks oder mit Miloš und versuche, meinen Bruder nicht ständig zu vermissen. Die Kumpels geben sich jegliche Mühe, damit das gelingt.

188

„Und da wir wohl alle zusammen nicht so gut kochen können wie Jeremy, kann man sich vorstellen, wie begeistert wir etwas gegen den Namen sagen werden“, ist Lisanne recht zufrieden mit der Entscheidung.
Aha. So sieht es also aus, wenn meine Band in wichtigen Fragen einstimmig beschließt: die Bandmitglieder drängen mich, bis ich ein Machtwort ausspreche. Heißt das, dass ich sie nach Belieben regieren kann, solange ich ihnen nur das Gefühl gebe, sie könnten mitentscheiden oder mich in eine Richtung bewegen?
Mitten in meine Gedanken brummt Miloš irgendwas serbisches.
„Was hast du gesagt?“, will ich wissen.
Er wiederholt es; das Wort demokratija kommt drin vor.
„Zweifelst du mein Demokratieverständnis an?“, rate ich ins Blaue, und lege noch nach: „Passt dir der Name nicht?“
Er hebt eine Augenbraue und winkt ab.
Merle grinst über ihr ganzes rundes Gesicht. „Ihr zwei seid schon besondere Schätzchen. Ich glaube, es wird ein großer Spaß, mit euch in einer Band zu sein.“


dreiundsechzigstes Kapitel

Neben den bereits erwähnten Unterrichtsmaterialien habe ich eine Menge Holzklötzchen gesägt. In ihrer Grundfläche sind sie rechteckig, aber die vertikalen Kantenlängen der meisten sind unterschiedlich. Wenn man sie richtig stapelt, werden keine kippeligen Türme, sondern romanische Bögen daraus. Das verrate ich meinen Kindern natürlich nicht vorher. Jede Klein­gruppe bekommt die gleiche Anzahl Klötzchen und dann dürfen sie ausprobieren, was man damit anstellen kann.
Finn und Jordi versuchen es erst jeder mit der Hälfte der Klötze, dann nimmt Jordi alle zusammen. Onno fragt mich etwas, dann gucke ich, was Iris, Malika und Amber machen und als ich das nächste Mal zu Finns Platz gucke, bestaunen die beiden ihren Bogen.
„Oh“, sage ich verwundert, „wie habt ihr das denn so schnell hingekriegt?“ Ich mache auch die anderen Kinder aufmerksam und wir versammeln uns um den Zweiertisch. „Erklärt mal, wie ihr das gebaut habt“, bitte ich.
Jordi lacht. „Ich war mal mit meinem Papa in einem Museum, und da hatten die auch so Klötze. Aber die waren aus Schaumstoff und viel größer. Da konnte man auch so Bögen bauen. Ich und der Finn, wir haben die erst mal sortiert und dann ausprobiert, ob das auch ein Bogen wird. Du hattest das ja alles nicht vorher gesagt.“
Jetzt sind die anderen Kinder Feuer und Flamme und wollen das ebenfalls schaffen. Die Kinder, deren Bögen einstürzen, versuchen es auf einem anderen Weg oder bitten die beiden Baumeister um Hilfe.
Gelegentlich gebe ich Tipps oder Anregungen, aber ich könnte den Raum auch verlassen; niemandem würde es auffallen, so vertieft sind die Kinder. Sie versuchen, die Bögen höher und weiter zu bauen, sie stellen fest, was trägt und was nicht und machen Erfahrungen mit den Naturgesetzen rund ums Thema Statik. (91)
Zum Ende des Vormittags, als ich meine Klötzchen einsammeln lasse, fragt Lindsey: „Darf ich die behalten?“
„Nein, das geht nicht. Ich brauche die ja noch für andere Kinder.“
„Oder können wir nächstes Mal im Werken selber so welche bauen?“
„Au ja!!“, rufen andere Kinder begeistert.
„Gut, dann fangen wir übermorgen damit an“, erkläre ich mich einverstanden. Darauf habe ich gehofft! Vielleicht jubeln hier die Ingenieure von morgen? Ich mag diesen visionären Blickwinkel meiner Arbeit.

187

Ich gehe zu Miloš hin, nehme ihm den Bass ab und spiele mit, als Merle die Strophe singt: „As you make your way through this old world of ours, as you see the beauty of the morning dew. As you smell the summer flowers, as you pass away the hours: May the saints and savi­our watch over you.“ Dann hält sie inne: „Woher kennst du das Lied?“
„Es gibt eine schottische Band, „The Electrics”, die hat das Lied im Programm. Ich glaube allerdings nicht, dass die es erfunden haben, wahrscheinlich ist es wesentlich älter.“
„Und woher kannst du mit dem Bass umgehen?“, erkundigt Miloš sich und holt sein Instrument zurück.
„Ich kann Gitarre spielen, das wusstest du nicht?“, kopiere ich seinen Satzbau von eben.
Vermutlich erkennt er ihn, denn er grinst vor sich hin.
Lisanne spielt die Melodie auf dem Akkordeon. „Sing noch mal“, sagt sie zu Merle.
Die stimmt wieder den Refrain an und wir alle machen mit, aber in der Mitte der ersten Strophe treibe ich sie an: „Heya! Das muss schneller gehen! Wir sind kein Beerdigungszug!“
Zeile für Zeile verändert sich nun das Lied, bis wir es von einer getragenen Folk-Weise zu einem fetzigen Rocklied umgewandelt haben.
„Donnerscheiße!“, lacht sie zum Schluss, „Es ist ja ein Reisesegen, aber das muss eine ziemlich eilige Reise sein.“
Mir gefällt es auch. Was mich allerdings sehr nachdenklich stimmt, ist die Tatsache, wie wenig Simones Fehlen unsere musikalische Entfaltung stört. Kaum ist sie nicht dabei, können wir die Vorgaben eines Liedes verlassen und etwas ganz anderes daraus machen. Simone ist immer so unflexibel. Am liebsten würde sie mit aufgeschlagenem Heft auf dem Notenständer spielen, aber das habe ich ihr verboten. (89) Hoffentlich ist es nicht Aufgabe des Bandgründers, unpassende Musiker aus der Band auszusortieren.
„Was soll denn Donnerscheiße sein?“, will Lisanne amüsiert wissen.
„Das ist mein deutsches Lieblingswort. Ein Kumpel hat das mal gesagt, es ist cool, ne?“
„Was bedeutet es?“, will Miloš wissen.
Zugleich sage ich: „Ist das vielleicht so was wie Donnerdrummel? Das sagt–“
„Jeremy“, unterbricht sie mich schon wieder, „Das ist unser Name.“
„Was, Donnerdrummel?“, frage ich skeptisch.
„Was bedeutet es?“
„Ja. Donnerdrummel“, wiederholt sie, während Merle sich erbarmt und wenigstens schon mal ihr Lieblingswort übersetzt.
Ich wette, Lisanne weiß, dass das einer der Flüche aus der Kindergeschichte Ronja Räubertochter ist. „Zum Donnerdrummel!“ ist da eine oft gehörte Wendung. Allerdings in der deutschen Fassung. Woher weiß sie das? Das kann nicht alles nur daran liegen, dass ihre Mutter Buchhändlerin ist. (90)
„Die Vorband von Linkin' Park: Donnerdrummel. Wie klingt denn das?“, bemängelt Miloš. „Da können wir uns auch Magenknurren nennen.“
Ganz ehrlich? Der Name ist so schräg, dass ich von mir aus nie versucht hätte, ihn als Bandnamen durchzusetzen. Schräg – und einzigartig. Auf der ganzen Welt wird es keine zweite Band mit dem Namen geben. Weil es wahrscheinlich von mir erwartet wird, spiele ich mich als Chef auf: „Ich, Bandgründer, verkünde hiermit, dass unsere Band „Donnerdrummel“ heißt, und wem das nicht passt, der kann gehen, und wer diese Debatte um den Bandnamen noch mal anfängt, muss uns zur Strafe alle zu sich nach Hause einladen und dann ein leckeres Essen mit mindestens drei Gängen kochen. Basta.“

186

Vor der Bäckerei begegne ich Merle, die neugierig fragt: „Worum geht’s denn? Warum sollten wir herkommen?“
„Hältst du es noch ein paar Minuten aus, bis alle zuhören?“, wehre ich ab.
Im Proberaum klampft Miloš auf dem Bass herum; Lisanne wartet in der Sitzecke.
„Tag zusammen“, grüße ich, „hat einer Kaffee gekocht?“
Lisanne reicht mir eine volle Tasse und ich gebe Milch dazu. „Was war so dringend, dass du uns schon wieder sehen wolltest?“, will sie wissen.
Miloš hockt sich mit dem Bass auf dem Schoß auf die Sofalehne, ich bleibe stehen.
„Wir müssen uns einen neuen Namen ausdenken. Ich bin dagegen, dass die Band Pussycore heißt. Das Wort hat nichts mit Musik zu tun.“
Miloš grinst mich von unten an. „Das wusstest du nicht?“, fragt er.
Ich merke, wie mir das Blut in den Kopf schießt. „Nein, stell dir vor, das wusste ich nicht!“, fahre ich ihn an, weil es mir nicht passt, dass er mich als dumm hinstellt. „Zufälligerweise habe ich nicht ständig mit Leuten zu tun, die dauernd Pornos gucken oder was weiß ich für Filme, in denen solche Wörter vorkommen!“
„Jeremy“, unterbricht Lisanne, aber ich lasse mich nicht unterbrechen, ich bin noch nicht fertig mit ihm: „Und wo ich gerade dabei bin, womit muss ich rechnen, wenn ich Chef einer Band bin, in der du mitspielst? Wenn das so läuft, kannst du in Zukunft der Chef sein, dann siehst du mal, wie das ist!“
„Jeremy“, versucht Lisanne es wieder, diesmal mit mehr Nachdruck.
„Ja, verdammt, was willst du?“, fahre ich auch sie an.
Ruhig sagt sie: „Wir haben nicht drüber nachgedacht, welche Bedeutung das Wort hat und ob das zur Band passt. Ich wusste übrigens auch nicht, was es heißt, bis ich gestern Abend im Internet nachgeguckt habe. Setz dich bitte hin“, schiebt sie ein. „Außerdem tut es mir leid, dass die Abstimmung so doof gelaufen ist. Als ich zuhause war, hatte ich ein richtig schlechtes Gewissen dir gegenüber. Wir sollten ab jetzt alle wichtigen Dinge einstimmig beschließen, nicht bloß mit Mehrheit.“
Die anderen nicken.
Merle räuspert sich. „Du bist anscheinend eher so“, sie sucht nach dem richtigen Wort.
„Eher so was?“, unterbreche ich die entstehende Pause in ihrem Satz.
„Na ja, ich wollte sagen, so … ich meine … für mich ist das Wort völlig normal. Meine Freunde sagen das halt oft. Ich wollte damit auch nicht sagen, dass du Pornomucke machen würdest, das war ja bloß ironisch gemeint. Es tut mir leid, das wir gleich als erstes so ein Missverständnis haben.“
„Ist okay.“ Mir ist an einem Themenwechsel gelegen.
„Machen wir heute Musik oder reden wir nur?“, fragt Lisanne, als hätte sie meine Gedanken erkannt.
„Im Musikmachen sind wir jedenfalls besser“, brummt Miloš und kratzt mit dem Fingernagel über eine Saite.
Wie soll ich seinen Gesichtsausdruck deuten? Er guckt fast, als hätte er ein schlechtes Gewissen! Ich vertiefe das lieber nicht, sonst drohen womöglich weitere Gefühlsausbrüche.
Lisanne will wissen: „Hast du vor unserer Band schon woanders mitgemacht?“
„Ja, in insgesamt sechs Bands. Zuletzt in einer Irish-Folk-Gruppe, was tierischen Spaß gemacht hat, aber weil die alle aus Edam und Amsterdam waren und mein Auto kaputt ging, haben wir uns getrennt. Die Fahrerei mit dem Zug hat genervt. Deswegen wäre es voll geil, wenn es endlich mal eine Band an meinem Wohnort gibt, auch wenn ich wieder ein Auto habe.“
„Hast du früher viel geraucht?“, frage ich, denn jetzt riecht sie nicht danach.
„Nein, nie. Meine Stimme war schon immer so.“
„Was ist dein Lieblingslied? Sing es mal, vielleicht passt das auch zu uns.“
Merle grinst. „Wenn wir erst mal alle Missverständnisse durch haben, glaub ich, dass wir viel Spaß zusammen haben werden“, sagt sie, dann holt sie Luft und fängt an, gefühlvoll zu singen: „May your life in this world be a happy one, may the sun be warm and may the skies be blue. May each storm that comes you way, clear the air for a brighter day … may the saints and saviour watch over you.“

185

Während des Liedes und des nachfolgenden tauschen Miloš und ich uns mit Blicken und sparsamen Gesten über Merle aus. Sie ist Fan von meinem Schlagzeugstil. Gut. Aber ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Ihre raue Stimme, mit der sie unerwartet gut herumbrüllen kann, ist zwar zu gebrauchen, aber sonst? Die Stimme allein reicht nicht aus, um mich zu überzeugen, dass wir eine gute Band werden können.
„Komm mit raus“, sagt er danach zu mir.
„Geht ihr euch jetzt beraten?“, fragt Merle, die das mitbekommen hat. Weil er nickt, legt sie nach: „Ich kann auch raus gehen, dann seid ihr hier unter euch.“
„Es geht keinen an, was wir reden“, lehnt er ab.
„Tolle Demokratie!“, beschwert Simone sich. „Heißt das also, ihr beide beschließt was und dann sind gefälligst alle dieser Meinung?!“
Er kümmert sich nicht um sie, sagt mir „Komm mit“ und wir verlassen den Raum. Eine halbe Treppe tiefer stelle ich fest: „Du bist dafür, sie zu nehmen.“
„Ja. Und du bist dagegen.“
„Kein großes Geheimnis.“
„Willst du wissen, warum ich sie dabei haben will?“
„Leg los.“
„Erstens“, fängt mein strukturierter Kumpel seine übliche Aufzählung an. „Die Frau kann viel mehr als rumbrüllen. Wenn wir uns eines Tages irgendwohin entwickeln, geht sie mit. Zweitens. Sie kann gleich gut mit Simone und Lisanne. Kein Zickenterror.“
„Hättest du gedacht, dass Lisanne so zickig sein kann?“, werfe ich grinsend ein.
Er grinst mit. „Nee. Aber bei Eelco hat sie auch niemand angegriffen.“
Ich kehre zum Thema zurück: „Wenn ich jemand besseres finde, können wir das ja noch mal neu verhandeln.“
„Machen wir so“, ist Miloš einverstanden.
Im Proberaum verkündet er unseren Entschluss: „Wir sind dafür, dass Merle mitmacht. Lisanne, was meinst du?“
Lisanne nickt.
„Hast du was dagegen?“, wendet er sich an Simone. Sie schüttelt den Kopf und er fragt: „Was regst du dich auf?“

Als Cokko am nächsten Tag von der Arbeit kommt, berichte ich von den neuen Entwicklungen (gestern Abend war es zu spät, er schlief schon).
„Was?!“ Er guckt mich entsetzt an. „Wie nennt ihr euch?“
„Pussycore“, wiederhole ich. Nun gut, begeistert bin ich nach wie vor nicht, aber warum reagiert er so heftig? Mir fällt eine Erklärung für seine Reaktion ein: „Warum fragst du, kanntest du schon mal eine Band, die so hieß?“
„Nein, aber weißt du, was das Wort bedeutet?“
„Nö, nicht genau. Merle hat das gesagt. Ich denke mal, Pussycore ist so eine Art Hardcore, wenn man es nicht kann oder so.“ Ich schaue in Cokkos Gesicht und da sieht es danach aus, als wäre meine Übersetzung die falsche. „Was genau heißt Pussycore?“, erkundige ich mich.
„Das Wort wird in der Pornoszene verwendet und heißt Vagina, aber nicht so … offiziell.“
„Und woher weißt du, welche Worte in der Pornoszene verwendet werden?“, frage ich interessiert nach.
„Man nennt das Allgemeinwissen. Falls ihr noch mal ein Wort findet, das euch so gefällt, dass ihr es zum Bandnamen nehmen wollt, versprich mir, dass du erst fragst, was es heißt.“
Ich nicke. Wenn ich gewusst hätte, was das bedeutet, hätte ich, Abstimmung hin oder her, nie zugelassen, dass wir uns so nennen. Gut, dass sich meines Bruders Allgemeinwissen über mehrere Sprachen erstreckt. Das wäre peinlich geworden, wenn wir irgendwo aufgetreten wären und alle hätten wegen dem Namen eine Porno­show erwartet!
Also klingele ich meine Band zusammen, das heißt, alle bis auf Simone, die keine Zeit hat. Es ist total unpraktisch, dass sie in Hoorn wohnt. (88) Die meisten spontanen Treffen scheitern daran, dass sie eben nicht spontan herkommen kann. (Wobei ich den Verdacht habe, dass die Hälfte dieser spontanen Treffen ohne sie auskommen muss, weil sie keine Lust hat. Hoorn ist ja gleich um die Ecke, eine weite Fahrt hätte sie nicht.)

184

Nachdem wir ihr ein Liedchen vorgespielt (und uns gewaltig ins Zeug gelegt) haben, lautet jedoch ihr einziger Kommentar: „Das ist ja voll der Pussycore. Könnt ihr nicht ein bisschen schneller spielen?“
Feindselig grunze ich sie an: „Schneller? Dir geht’s wohl nicht mehr gut, was?“
Meine Beschwerde geht in Miloš’ schallendem Gelächter unter. „Pussycore!“, grölt er, „Das ist guter Name für die Band! Ab jetzt wir heißen Pussycore!“
Simone puhlt die Stöpsel aus den Ohren. „Was redet ihr? Was hat sie gesagt?“, erkundigt sie sich ratlos, denn sie hat nur die Hälfte mitbekommen.
„Manchmal frag ich mich echt, wie du mit diesen Panzerstopfen überhaupt Musik machen kannst“, sagt Lisanne. „Merle meint, wir würden Pussycore machen und Miloš sagt, dass das ein guter Bandname wäre.“
„Das hab ich verstanden“, sagt sie.
Müssen wir uns wirklich jetzt um einen Bandnamen kümmern?! Außerdem: „Wenns dir hier zu langsam ist, such dir eine andere Band.“
„Mann, das sollte ein Spaß sein!“, kapiert sie, was sie angerichtet hat. „Ich bin schwer von euch begeistert und von dir erst recht, du bist nämlich der geilste Schlagzeuger, der mir bisher begegnet ist.“
„Aha“, mache ich reserviert.
„Ja. Wenn du immer so trommelst, kann ich mein Metronom wegschmeißen. Also hör bitte auf zu heulen und trommel weiter.“
Noch mal mache ich „Aha“ und raffe mich auf, Position zu beziehen: „Trotzdem finde ich Pussycore scheiße.“
„Ich finde es gut“, macht Miloš seine ohnehin sonnenklare Meinung publik. „Was sagt ihr?“, wendet er sich an die Mädels.
Simone ist dafür, den Namen zumindest so lange zu behalten, bis wir was besseres haben. Lisanne schließt sich an, und so bin ich ruckzuck überstimmt. Das ist der Nachteil an meinem basisdemokratischen Affentheater: Es kann auch schief gehen. Eelco wäre das nie passiert.
„Darf ich also bei euch mitmachen?“, fragt Merle, „Probeweise?“
„Na sicher“, lädt Lisanne freundlich ein. „Was spielen wir?“
„Holy Lord“, empfiehlt Simone und zu Merle sagt sie: „Ganz hinten im Heft.“
Miloš kennt das Lied – wie auch die übrigen unseres Repertoires – auswendig und spielt die ersten Töne an.
Auf einmal steht Merle vorm Schlagzeug. „Bist du jetzt sauer?“, will sie von mir wissen.
„Scheint so, als hätte ich in meiner Band nicht mehr besonders viel zu sagen.“
„Was heißt das, in deiner Band?“
Bevor ich mich dazu äußern kann, hat Miloš ihr schon erklärt: „Jeremy hat die Band gegründet und den Proberaum gefunden. Also sagen wir, er ist der Chef.“
Aha, denke ich, der Chef. Aber zu sagen hab ich nix. Pussycore. Blöder Name.
„Sorry – ich bin bloß mit der Info hier hin gekom­men, dass ihr einen Sänger sucht. Von einem Bandgründer hat mir keiner was gesagt.“
„Bis jetzt war ja auch noch nicht viel Zeit dafür“, schaltet Lisanne sich ein. „Zu deinem Verständnis: Jeremy hat die Band zusammen mit Miloš gegründet, wobei Jeremy die Sache ins Rollen gebracht hat. Dann ist Simone dazu gekommen und zum Schluss ich. Allerdings kenne ich die beiden Herren schon aus einer anderen Band. Was möchtest du noch wissen?“
Merle lacht. „Ich glaub, das reicht erst mal.“
„Na gut“, zeige ich mich versöhnt, denn sie hat recht; sie wusste das nicht. „Also fangen wir an mit Holy Lord.“

183

Zur ersten Bandprobe nach meiner Zettelaktion kommt aber jemand zu Besuch, der nicht Brötchenkaufen war. Simone bringt einen jungen Mann mit.
Ich habe nicht mitbekommen, ob sie oder Cokko die Beziehung beendet hat, aber offen­sichtlich ist das passiert. Mithilfe meiner herausragenden Menschenkenntnis (87) sehe sogar ich gleich bei den ersten Blicken, die sie ihrem Neuerwerb zuwirft, dass sie verknallt ist.
„Das ist Tim“, stellt sie ihn vor, nachdem sie ihm unsere Namen gesagt hat.
Er kann aber auch selber sprechen, denn gleich darauf erklärt er: „Simone sagt, dass ihr einen Sänger für die Band sucht.“
„Das ist richtig“, bestätige ich und gebe ihm ein Liederheft. „Kennst du eins daraus? Blätter mal durch.“ Grundsätzlich bin ich dafür, ihn in die Band aufzunehmen. Ich finde nämlich, dass Hardrock nicht von Frauen „besungen“ werden sollte. Frauen haben dafür einfach nicht die richtige Stimme, sie ist zu hoch und um so richtig rumbrüllen zu können, fehlt ihnen auch Stimmvolumen.
Schon das dritte Lied ist ihm geläufig und er summt die Melodie vor sich hin. „Ist es das?“, vergewissert er sich, „Es gibt ja viele Lieder, die den gleichen Anfang haben.“
Wir übrigen nicken und Miloš schlägt den ersten Akkord an. Bei ihm hat Tim schlechte Karten, weil er ein Kumpel von Simone ist. Miloš mag Simone nicht. Lisanne und ich schätzen sehr, dass er es Simone nicht spüren lässt. In Situationen, in denen mir ein böser Spruch entschlüpfen würde, hält er einfach seine Klappe, grinst und denkt sich seinen Teil. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte diese Disziplin auch.

Nach dem Lied schaut sie uns begeistert an. „Und, was sagt ihr?“
„Das passt nicht besonders gut“, fasst Lisanne die Meinungen diplomatisch zusammen. Sie wendet sich an Tim: „Du singst sehr schön, aber zu hoch für unsere Musik. Wir hatten an eine eher tiefere Stimmlage gedacht.“
Genau, denke ich, in einem Chor wäre er sicher besser aufgehoben als bei uns. So können wir ja auch eine Frau dazu holen.
„Na ja, klappt halt nicht immer“, winkt er ab und packt seine Sachen. Simone guckt ihm sehnsüchtig hinterher.
Meine Menschenkenntnis sagt mir, dass wir bald keine Gitarristin mehr haben werden.

Zwei Proben vergehen, ohne dass etwas passiert, dann ruft mich ein gewisser Luke an, der den Aushang beim Bäcker gefunden hat. Doch anstatt am darauf folgenden Dienstag im Raum oberhalb der Backstube wahlweise zu singen, zu grölen oder zu brüllen, macht er sich nur über die Christen und ihren Gott lustig, nachdem er herausgefunden hat, wem die meisten Lieder gelten.
Wir haben ihn kaum hinauskomplimentiert und uns zu einem Kaffee in die Sofaecke verzogen, als eine kleine dicke Frau den Proberaum betritt.
„Tagchen, ich hab in der Stadt gehört, dass ihr einen Sänger für eure Band sucht – das stimmt doch, oder?“, kommt sie gleich zur Sache.
„Ja, das ist richtig“, sage ich.
„Okay, das klingt gut. Ich heiße Merle.“
Ich stelle uns auch vor und lasse ihr wie allen vor ihr die Wahl: „Willst du uns was singen oder willst du erst mal hören, wie wir so sind?“
Nachdem ich so gründlich mit meiner These baden gegangen bin, dass wir Männer die besseren Rocker sind, muss ich dieser Merle wenigstens die Chance geben, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Und zufällig weiß ich, dass „Merle“ ein anderer Name für die Amsel ist, daher dürfte eigentlich niemand anders für uns singen als jemand mit einem Vogelnamen.

26. August 2015

182

Schon beim Frühstück ist der Kleine nass geschwitzt und der Mutter tun von der niedrigen Stuhlfläche Hintern und Rücken weh.
Grietje bietet ihr an, das Projekt „Jannis kommt in die Schule“ am nächsten Tag weiter zu führen, weil es ja so für beide nicht angenehm ist.
Als Mutter und Sohn den Gruppenraum schließlich verlassen haben, verdreht sie die Augen und schnauft erleichtert aus.
Unsere neue Praktikantin Sandy hat das bemerkt und fragt mich leise: „Warum reagiert sie genervt? Wäre es nicht besser, mehr Rücksicht zu haben, wenn es für den Kleinen so schrecklich ist, ohne seine Mama zu sein?“
„In Prinzip hast du natürlich Recht, wenn es für den Kleinen so schrecklich ist, muss man Rücksicht haben und ihm den Einstieg in den Schulalltag leichter machen. Deswegen hat Grietje die beiden ja auch nach Hause geschickt. Aber du hast die drei Mädchen gesehen, die neu in die Gruppe gekommen sind. Fällt dir im Vergleich zu ihnen etwas auf, vor allem zwischen Jannis und Maureen?“
„Wer ist Maureen?“
„Sie hat sehr geweint, als ihre Mama ging“, helfe ich ihrem Namensgedächtnis auf.
Sandy sucht mit den Augen den Raum nach dem Kind ab und findet es in der Puppenecke, vertieft ins Spiel mit einem anderen Mädchen. „Oh … die fühlt sich anscheinend recht wohl. Vorhin hab ich gedacht, die weint den ganzen Vormittag.“
„Für die meisten Kinder ist es nicht so furchtbar schrecklich, hier ohne die Mama bleiben zu müssen. Es gibt genug Ablenkung, um den Trennungsschmerz bald zu vergessen. Nachher, wenn Maureens Mama wiederkommt, wird sie wieder ein paar Tränchen drücken, weil ihr einfällt, dass Mama weg war, aber morgen wird der Abschied schon leichter fallen. Wenn ein Kind derart klammert, liegt das oft daran, dass die Mama in den vergangenen Jahren nichts anderes gemacht hat. Sie hat dem Kind vermittelt, dass es ohne sie verloren ist, hat ihm nichts zugetraut und es mit dem eigenen Sicherheitsbedürfnis an sich gefesselt.“
Ein Junge kommt zu Sandy und möchte, dass sie ihm ein Buch vorliest. „Gleich“, verspricht sie und fragt: „Meinst du, Frau Hoyset hat ihr Kind so unselbstständig gemacht?“
„Danach sieht es aus. Dagegen Dionne und Isa – sie wirken gelassen und unabhängig“, weise ich sie auf die beiden anderen Neuzugänge hin. „Denen wird es vielleicht nicht mal auffallen, wenn die Mamas sich heute Mittag um eine Stunde verspäten.“
„Aber … warum erzieht man sein Kind zur Unselbstständigkeit? Das macht doch hinterher nur Arbeit!“, wundert sie sich.
„Dein Kind wird lange auf dich angewiesen sein. Wenn dich niemand auf der Welt braucht, bist du immerhin für dein Kind wichtig. Zumeist sind das aber Prozesse, die im Unterbewuss­ten ablaufen, es würde also nichts bringen, Frau Hoyset drauf anzusprechen. In einer Psycho­therapie könnte sie sich davon befreien.“
„Dafür muss sie den Kleinen aber erst mal für eine Stunde loswerden“, grinst Sandy.
„Genau. Pass jetzt auf, dass du nicht respektlos wirst“, mahne ich.
„Kapiert“, sagt sie und geht nun, das Buch vorzulesen.


zweiundsechzigstes Kapitel

Wer sich keine Ziele setzt, wird nie welche erreichen. Deswegen habe ich mir als realistisches Ziel gesetzt, bis zu den Sommerferien (inzwischen ist Mitte Mai) einen hauptamtlichen Sänger zu finden. Dafür verfasse ich einen papiernen Aufruf und hänge ihn mit Stevens Erlaubnis in alle seine Brotläden in der Umgebung. Jeder Mensch kauft gelegentlich oder öfter Brot und schaut sich beim Stehen in der Warteschlange im Laden um. Wo könnten solche Zettel besser platziert sein? Außerdem darf ich welche in Zuyderkerks größtem Supermarkt mit umfangreicher CD-Abteilung hinterlegen, in der Musikschule und in einem Freizeittreff mit Probe­raum. Bei dieser breiten Streuung sollte meine Suche bald Erfolg haben!

181

Nach dem Essen malen wir die Holzbuchstaben an und Cokko erzählt ein bisschen ausführlicher von seinen Erlebnissen. „Die WG würde dir vermutlich gefallen. Sie ist in einem uralten Haus und das Treppenhaus ist fast genauso wie hier. Nur drei Stockwerke höher. Die WG ist natürlich im fünften Stock, das wird lustig beim Umzug.“
„Wie uralt ist das Haus denn?“, frage ich erstaunt nach.
„Warum?“
„Na ja, uralte Häuser haben selten so viele Stockwerke, außerdem ist Rotterdam im Krieg fürchterlich zerstört worden, deswegen kann das Haus nicht so besonders uralt sein.“
„Ach, was weiß denn ich!“, winkt er ab. „Jedenfalls gibt es in der ganzen WG bloß einen einzigen Niederländer, die anderen kommen aus Deutschland, Polen, Marokko und Surinam. Alle sind an der Hogeschool, studieren aber unterschiedliche Fächer. Der Anko, das ist übri­gens der Niederländer“, schiebt er für mich ein, „freut sich jetzt, weil er dann nicht mehr allein sein wird. Ich weiß noch nicht genau, ob ich ihm sagen soll, dass ich nur ein halber Niederlän­der bin. Allerdings wären wir dann zumindest anderthalb. Vielleicht reicht ihm das ja.“
„Und wie viele Leute sind das insgesamt?“
„Sieben. Alice und Sven aus Deutschland“, zählt er auf, „Marek und Radek aus Polen, Anko, Kazeem aus Surinam und Iba aus Marokko. Na ja, und ab dem Sommer ich, dann sind wir acht.“
„Stell dich mal lieber drauf ein, dass im Sommer die Hälfte ausgezogen ist und die andere gerade irgendwo ein Auslandssemester macht. Studenten-WGs haben meist eine recht kurze Haltbarkeit.“
„Du redest schon wie Simone! Wusstest du übrigens, in Rotterdam kann man ganz prima Tiermedizin studieren. Die InHolland hat da einen Studiengang. Aber das kommt für sie nicht in Frage. Na ja, bald ist das durch, dann kann jeder wieder die eigene Suppe löffeln.“
„Warum machst du nicht jetzt schon Schluss?“, will ich wissen. „Besonders viel scheint dir nicht an der Beziehung zu liegen.“
Mein Bruder hebt die Schultern. „Manchmal nervt sie mich, aber es kann auch gemütlich mit ihr sein. Ich konnte mich bisher noch nicht aufraffen. Aber wenn es dir so wichtig ist!“
„Es ist mir nicht wichtig, dass du mit ihr Schluss machst, sondern mir ist wichtig, dass du … also, dass ihr“, verheddere ich mich immer mehr in meinem Anliegen und lasse meine Bemüh­ungen mit einem farblosen „Du weißt schon“ versanden.
Cokko schaut mir grinsend zu. „Willst du sagen, dass ich ihr keine unnötigen Hoffnungen machen soll?“
„Ja, ungefähr so was. Wenn ich mir vorstelle, Helena hätte mich damals so in der Luft hängen lassen!“
„Aber ich lasse sie nicht in der Luft hängen. Genauso könnte es sein, dass sie gleich anruft und mir mitteilt, dass sie einen total süßen Typen kennen gelernt hat und dass es mit uns des­wegen vorbei ist. Bei ihr sind ja immer alle total süß.“
Davon habe ich auch schon gehört.

Seit dem ersten April (86) sind einige Kinder vier geworden, die am Montag auf die Gruppen verteilt werden. Wir Driehoeken bekommen drei Mädchen und einen Jungen.
So unterschiedlich wir Menschen sind, so unterschiedlich ist auch unser Verhalten, wenn wir das erste Mal in fremder Umgebung sind.
Kinder sind da keine Ausnahme.
Zwei der Mädchen schicken ihre Mütter direkt weg, als wollten sie endlich ungestört sein, das dritte ist schüchterner und weint, als die Mutter geht. Und der Junge lässt nicht einmal zu, dass seine Mutter aufsteht. Sie muss den ganzen Vormittag neben ihm sitzen und Bücher vorlesen oder erklären, was die anderen Kinder tun. Zur Toilette kann sie nur gehen, wenn er mitkommen darf.

180

„Für die Kinder ist es wie ein Spiel. Hier drunter“, gehe ich weiter in meiner Aufzählung, „habe ich neue Vorlagen für Bastelarbeiten gemacht–“
„Aber sag mal“, unterbricht er mich, „ist das denn nicht viel zu spät, wenn du jetzt erst mit dem Leseunterricht anfängst? Es ist doch schon das letzte Viertel des Schuljahres. Was hast du in den drei Vierteln vorher gemacht?“
„Nein, das ist für die Kleinen. Bis zum Sommer lernen sie die Buchstaben im Großdruck, damit sie sie alle mal gesehen haben und wissen, was man damit anstellen kann, wie sie klingen und wie man einfache Wörter daraus bilden kann. Nach dem Sommer geht es dann mit dem Schreiben los. Das ist dann immer noch keine Schreibschrift, sondern eher Druckbuch­stabenmalerei, aber sie kriegen ein Gespür für die Zusammenhänge von Schrift und Sprache, sie finden vielleicht schon da Gefallen am Lesen.“
„Ist denn das so schwierig?“
„Es kann schwierig werden, wenn die Grundlagen nicht stimmen. Die meisten Analphabeten können nicht etwa nicht schreiben, weil sie in der Schule gepennt hätten, sondern weil die Lehrer oder ihre Eltern zuviel Druck ausgeübt haben, weil sie motorisch schlecht vorbereitet waren, weil sie nicht gut genug gefördert wurden, weil sie den Unterricht nicht verfolgen konnten – zum Beispiel, weil sie einen Hör- oder Sehfehler hatten, weil sie sich vielleicht Sorgen über die Zukunft machten–“
„Kleine Kinder?!“
„Na sicher. Denk doch mal, wenn deine Eltern sich trennen, ist auf einmal dein ganzes Leben aus dem Lot. Dann hast du keine Ruhe zum Lesen lernen. Deswegen fangen wir das Ganze als Spiel an und lassen jedem Kind so viel Zeit, wie es braucht.“
„Deswegen fangt ihr nämlich auch jetzt damit an und nicht erst nach den Sommerferien“, fasst er zusammen.
„Genau. Gerade die ersten Schuljahre sind von großer Bedeutung für deine restliche schulische Karriere. Wenn du früh gelernt hast, dass Schule unangenehm ist, dass du die Inhalte sowieso nicht kapierst oder nicht so schnell wie die anderen in deiner Gruppe – was macht das mit dir? Du musst ja glauben, dass du dumm bist. Und das blockiert dich dann womöglich für den Rest des Lebens.“ (85)
„Krass“, macht er nachdenklich, um dann wieder einmal das Thema zu wechseln: „Wärst du früher gerne auf die Schule gegangen?“
„Ich bin auf die Schule gegangen. Warum fragst du?“
„Was, du bist an der selben Schule Lehrer, an der du früher als Kind warst? Hattest du keine Angst, dass die Kollegen dich wie ein Kind behandeln könnten?“
„Nein, warum sollten sie das tun? Außerdem sind in den unteren Gruppen längst andere Leute. Ein paar von den alten Kollegen kennen mich noch von früher, aber ich habe ja mit dreizehn die Schule gewechselt, da bin ich zu Gerrit und Marjorie nach Alkmaar umgezogen, deswegen hat es mich nie gestört. Außerdem war ich immer lieb“, schließe ich sehr überzeugt.
„Du und immer lieb“, zweifelt Cokko.
„Ich weiß nicht, wie das mit dir ist, aber ich habe wahnsinnigen Hunger. Ich könnte uns was kochen“, werfe ich in den Ring.
Er grinst. „Du lenkst ab, Bruderherz. Aber, ja, koch uns was. Weißt du, das hat mir letzte Woche richtig gefehlt.“

179

Cokko wird genau in der Woche in Rotterdam verweilen, wo er ja im Sommer sein Studium beginnen will. Wie man ihn kennt, kommt er lieber gut vorbereitet in die Stadt. Deswegen will er sich schon jetzt nach einer WG umsehen und erste Kontakte knüpfen. Simone nimmt er dazu nicht mit, weil die ihn ‚ablenken’ würde, wie er es mir gegenüber formuliert hat. Dass er sich keine nähere Uni ausgesucht hat, passt ihr gar nicht. Mit verschiedenen Mitteln versucht sie nun, ihren Willen durchzusetzen, aber das bestärkt ihn nur, bei seinem Entschluss zu bleiben und nach dem beruflichen Ziel und nicht nach der Beziehung zu entscheiden. Er geht davon aus, dass sie kurz vor oder nach Beginn seines Studiums Schluss machen wird, und es scheint ihm nicht viel auszumachen. Das Studium ist ihm wichtiger, obwohl er noch gar nicht weiß, wie es wird und mit welchen Dozenten und Mitstudenten er zu tun haben wird.
Seine Willensstärke macht mich neidisch. Wie wünsche ich mir, damals, als ich noch mit Helena zusammen war, auch so zielstrebig gewesen zu sein!
Vieles wäre viel einfacher gewesen, wenn sie mich nicht mit einem bittenden Blick bzw. rationalen Argumenten zu fast allem hätte überreden können.

Die Tage ohne ihn fangen damit an, dass ich mich auf gar nichts konzentrieren kann. Es ist so still in der Wohnung! Niemand kommt von der Arbeit, niemand streicht interessiert durch die Küche und guckt, was in den Töpfen ist und niemand mosert mich morgens an, weil ich mit Inbrunst singend aus der Dusche steige.
Wie soll das bloß werden, wenn mein Bruder im Sommer ganz nach Rotterdam zieht? Ob ich ihn wohl, Willensstärke hin oder her, überreden kann, ein Wochenende pro Monat bei mir zu verbringen? Aber wahrscheinlich ist das albern. Ich bin ja kein alter Onkel, nach dem er regelmäßig sehen müsste.
Zum Glück kommen Pieter und Becks zum Essen und vertreiben die Einsamkeit und dienstags ist ja auch Bandprobe. Wir sind nicht sehr produktiv, aber es lenkt mich von meiner leeren Wohnung ab.
Am nächsten Morgen gerate ich endlich in das, was ich einen „kreativen Fluss“ nenne, die Ideen kommen, die Arbeit geht leicht von der Hand, die Ergebnisse sind gut. Und kaum ist das alles erreicht, steht mein Bruder wieder auf der Matte.
„Wie ist es dir ergangen?“, erkundige ich mich.
„Prima. WG und alles ist geregelt, die Leute sind nett … zumindest was man so nach drei Tagen sagen kann … und an der Uni sieht es relativ übersichtlich aus.“
„Also was du übersichtlich nennen würdest, nehme ich an. Für mich gäbe es bestimmt reichlich Möglichkeiten, mich zu verlaufen.“
„Ach wo, so schlimm ist das gar nicht. Und außerdem hast du doch auch ein Studium absolviert und bist zu Lebzeiten wieder aus den Gebäuden gekommen. Denk nicht immer so schlecht von dir. Bist du auch erfolgreich gewesen? Du wolltest doch einige Sachen für die Schule tun.“
„Ja, hab ich. Willst du gucken?“
Cokko nickt und ich hole die Unterrichtsmaterialien hervor. Zuoberst liegen Großbuchsta­ben aus dünnem Sperrholz.
„Wofür sind die?“
„Die Kinder können sie beim „ersten Lesen“ als Vorlagen für ihre Pappbuchstaben nutzen. Vielleicht hilfst du mir gleich, sie bunt anzupinseln.“
„Ich nehme rot und blau“, legt er sich fest, aber daraus wird nichts: „Die kriegen ganz bestimmte Farben. Ich zeig dir gleich eine Liste, in der das alles steht. Die Buchstaben, die als erstes gelernt werden, haben natürlich andere Farben als die, die man seltener braucht.“
„Das klingt kompliziert.“

178

Nach der Zwiebelpupserei auf meinem Balkon haben wir zwei Bandproben mit singendem Schlagzeuger, die mich darin bestärken, einen hauptamtlichen Sänger zu suchen. Ich kann mich nicht auf zwei Sachen zugleich so konzentrieren, dass beide gut werden. Zumindest geht das nicht, wenn eine der beiden Sachen trommeln ist.
Ich erzähle Jesus davon und der hat mal wieder eine dieser ausweichenden Antworten für mich parat, von wegen, wenn ich mich weiterentwickeln wolle, sei es unausweichlich, dass ich Dinge tue, die ich zuvor nicht getan hätte. Im Klartext heißt das, dass ich mir ein bisschen Mühe geben soll. Manchmal macht er so was, damit ich nicht immer den einfachsten Weg gehe, sondern kreativ werde.
Aber in diesem Fall kann er sicher sein, dass ich den himmlischen Ratschlag nicht beher­zigen werde. Selbst wenn man davon ausgehen muss, dass er als Sohn des Herrschers der Welt alles kann(83), würde ich trotzdem sagen, dass er keine praktische Erfahrung im Trommeln hat.
Simone nutzt die zweite der Proben, um ihrem Ärger Luft zu machen. Sie findet es ziemlich doof, dass wir drei uns oft nur angucken müssen, um uns zu verstehen und loszulachen und dass sie so was nie versteht – und wenn man es ihr erklärt, nichts Lustiges daran finden kann. Und dass sie immer alles so genau erklären muss, nervt sie auch. Und am meisten geht ihr auf den Geist, dass sie in dieser Band eigentlich keine Chance hat, weil wir drei uns schon so lange kennen und so ein eingespieltes Team sind.
Lisannes und meine abwechselnd logischen, erregten oder besänftigenden Argumente halten sie nicht davon ab, sich ausführlich zu beklagen. Besonders ärgert mich, dass sie bei unserer Sitzung auf dem Balkon keinen Ton darüber gesagt hat. Im Gegenteil, da klang alles noch sehr entspannt. Ihr Frust wird sich aber nicht erst seitdem aufgestaut haben, das kann sie mir nicht erzählen.
Irgendwann bin ich selber genauso genervt wie sie und fordere sie unfreundlich auf, entweder in eine andere Band zu gehen, wenn ihr hier alles nicht passt, oder eine fünfte Person dazuzuholen, idealerweise einen Sänger, der die von ihr gewünschte zweite Gitarre spielt.


einundsechzigstes Kapitel

Zuyderkerk liegt nicht nur direkt am IJsselmeer und somit an einem der besten Segelreviere der Welt, sondern auch mitten im beliebtesten Urlaubsgebiet vieler Deutscher und Niederländer. (84) Für viele Haushalte hat deswegen schon in der Woche vor Ostern die Hauptsaison begonnen, besonders was die deutschen Gäste betrifft. Die einen haben eine Frühstückspension oder eine Ferienwohnung, andere arbeiten in Hotels, Restaurants, Segelschulen oder auf einem der drei Campingplätze rund um Zuyderkerk.
Die Schulen der Region nehmen darauf Rücksicht, indem sie die Frühlings- und Herbstfe­rien außerhalb der Urlaubssaison legen. Die Leute mit schulpflichtigen Kindern hätten sonst keine Gelegenheit, gemeinsam mit ihren Sprösslingen in Urlaub zu fahren.
Bei den Frühlingsferien – Mitte bis Ende Februar – hatte ich den Gips noch und durfte nicht wegsegeln, und jetzt, da ich dürfte und eine Woche Maiferien sind, habe ich anderes zu tun. Ich muss mich mit der Vorbereitung der Unterrichtsinhalte des restlichen Schuljahres befassen. Zwar wird das von Jahr zu Jahr weniger Arbeit, da ich in der MBB auf meine Unterlagen vergangener Jahre zurückgreifen kann, aber trotzdem will man den Kindern ja mal was Neues bieten können.

177

„Ich war erst wenige Monate in der Band, als sie umgezogen ist in einen anderen Probe­raum“, erklärt Miloš. „Wenn du dort hingekommen bist, hast du von weitem gehört, ob schon jemand drin war. Meist wusstest du auch gleich, wer drin ist. An einem Tag kam ich früher als sonst hin und konnte mir nicht vorstellen, wer drin war. Ich kannte niemanden, der so krass trommeln konnte.“
Mein Bruder meldet sich wie ein artiger Schüler und bekommt das Wort erteilt: „Was meinst du mit krass? Schnell?“
„Vielseitig. Die meisten Trommler lernen Rockmusik. Sie können nur Rockmusik, was aber nicht auffällt, da sie ja nur in Rockbands spielen. Oder dasselbe mit Pop, Swing, Blues und so weiter. Trommler, die mehrere Stile bedienen können, sind eher selten. Er hat zum Beispiel in einer Bigband gespielt und im Orchester–“
„Noch ein Wunderkind!“, ruft Cokko.
„Da kannst du mal sehen, Herr Sprachengenie, du bist nicht der einzige, der mehr als eine Sache kann“, pflaume ich ihn an.
„Ich habe lange draußen gestanden und habe nur zugehört, weil es so toll war. Irgendwann hörte es drinnen auf. Ich bin hinein gegangen. Und habe unseren braven Trommler gesehen.“
„Und dann wart ihr Kumpels und wolltet eine eigene Band machen“, tippt Simone.
Er seufzt und klingt ein bisschen genervt. (82) „Das ist sehr oberflächlich. Wirst du mit jemandem Freund, bloß weil der eine deiner Ansichten hat? Wir haben uns vorher auch schon gemocht. Aber da habe ich erkannt, dass er viel mehr kann als die Jesus-Pop-Band haben will. Als Eelco ihm gekündigt hat, war es keine Frage, dass ich mitgehe.“
„Und wie hast du dann deinen Bass gekriegt und den putzigen Verstärker?“, fällt ihr ein. „Sogar gebraucht kostet das ja einiges, und du hast doch nie Geld?“
„Ich verstehe die Frage nicht.“
„Ich dachte, ihr hättet da alle auf geliehenen Instrumenten gespielt?“
„Kennst du Prinzip von jugoslawische Warenumverteilung?“, fragt er.
Simone verneint.
„Ich werde erklären.“
Weil er plötzlich mit starkem Akzent redet, viel mehr als sonst, werde ich hellhörig. Das klingt nach Theater.
„Ist sehr einfaches Regel von Marktwirtschaft. Brauchst du kein Geld, brauchst du nur Waffe. Kannst du erst erklären, was du willst, kannst du aber auch sofort schießen. Was braucht ein Toter einen Bass? So ist Prinzip von jugoslawische Warenumverteilung.“
Simone starrt ihn fassungslos an.
Miloš verzieht keine Miene. „Ich habe gesehen, du hast viel besseren Verstärker als ich.“
Ihr Blick wird unbeschreiblich.
Cokko legt den Arm um ihre Schultern. „Hör auf. Das ist gemein.“
„Stimmt“, gibt er grinsend zu.
Lisanne kommt aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. „Manchmal frag ich mich, was du rauchst.“
„Eichenlaub in Zeitungspapier. Willst du auch eine?“ Er klopft sich ab, als hätte er die Zigaretten dabei.
„Ernsthaft?“, fragt Cokko. „Kann man sowas rauchen?“
„Du kannst alles rauchen. Die Frage ist, was das mit dir macht. Nein, ich rauche kein Eichenlaub. Das haben sie bei uns im Krieg geraucht, wenn der Tabak alle war, und ich glaube, es muss Krieg sein, damit du dir so etwas antust.“
„Ich glaub, ich will jetzt nach Hause“, sagt Simone sauer und steht auf.
„Och Schatz, es war doch nur ein blöder Scherz“, versucht Cokko sie zurück zu halten.
Sie geht gleich an die Decke. „Das war nicht blöd, das war total scheiße! Ihr habt alle gewusst, dass der mich verarscht!“
Mein Bruder will ihr nach, aber Miloš ist schneller. „Entschuldige bitte“, hören wir. „Das war wirklich ein schlechter Witz. Aber es hat mich genervt, dass du fragst, woher ich Bass und Verstärker habe. Normalerweise kauft man es, oder? Ich habe nicht immer kein Geld.“
„Aha“, macht sie.
„Und falls du fragen willst: ich lehne Gewalt ab.“
„So siehst du aus“, platzt sie heraus.
Er lacht. „Na komm. Verzeih mir das.“

176

Als das gemeinschaftliche Schlürfen aufgehört hat (alle loben meine Kochkunst) und Lisanne die Schüsseln und den Rest vom Brot in die Küche bringt, weil sie meint, dass nicht alle Arbeit an mir hängen bleiben soll, gibt Miloš mit stolzer Miene bekannt, dass er Erster ist.
„Erster wobei?“, frage ich.
Lisanne kommt aus der Küche zurück. Sie hat noch eine Flasche Weißwein gefunden und mitgebracht.
„Ich habe ersten Zwiebelpups gemacht.“
„Kann ja jeder sagen“, findet Cokko.
„Genau“, schließe ich mich an, „Woher willst du wissen, ob ich nicht eben schon beim Essen gepupst habe? Bloß weil keiner sagt, dass er pupst, heißt das nicht, dass keiner pupst.“
Simone starrt uns argwöhnisch an. „Ihr wollt doch jetzt nicht etwa–“
„Achtung!“ Zufrieden grinsend und jetzt gut hörbar demonstriert er, was er gegessen hat.
Lisanne guckt uns kopfschüttelnd an. „Solche Dinge, liebe Simone, bewegen deine Band­kollegen tief in ihrem Innern. Gewöhn dich dran. Und sobald du glaubst, eine Verrücktheit ist nicht zu toppen, legen sie noch eine Schippe drauf.“
„Wie lange seid ihr in einer Band gewesen, dass du sie so genau kennst?“
Sie lacht. „Jeremy kenne ich seit dem ersten Schultag. Miloš, wann bist du zur Band gekommen?“
„Ich dachte, es kommt die Frage, wann ich eingeschult worden bin. Es können anderthalb Jahre sein mit der Jesus-Pop-Band.“
„Okay, für die Statistik: Wann bist du eingeschult worden?“
„Neunzehn-zweiundachtzig. Aber ich konnte schon lesen.“
„Ein Wunderkind!“, grinst Cokko.
„Zurück zur Band. Nein, guckt nicht so entsetzt, ich will nicht wissen, wie alles gekommen ist mit der Jesus-Pop-Band. Sondern ich wüsste gerne, warum ihr da kollektiv ausgetreten seid. Ihr hättet ja einfach abstimmen können, dass andere Musik gespielt wird.“
„Nicht bei Eelco. Er war der Bandchef, er hat bestimmt. Wer das anders gesehen hat, konnte gehen.“
„Aber ihr habt es ja nicht alle an einem Tag anders gesehen.“
„Nein, wir sind auch nicht alle an einem Tag gegangen. Zwischen Eelco und Jeremy ist es nie einfach gewesen. Er hat sich viel Meckerei gefallen lassen“, sie nickt zu mir hin, „vor allem weil er kein eigenes Schlagzeug hatte, das gehörte einem seiner Vorgänger. Der hat es als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt, als er zum Studieren weggezogen ist. Irgendwann hat Eelco ihn wegen Disziplinmangel rausgeworfen. Offiziell. Das habe ich ja eben in der Küche schon angedeutet.“
„Hier, passt mal auf“, unterbricht Miloš und furzt eindrucksvoll. Offenbar kann er das steu­ern. Das ist ziemlich bewundernswert, ich wette, früher hat er damit den Vogel abgeschossen (also sinngemäß). Ich kann nur rülpsen, wenn ich will.
Lisanne gibt sich alle Mühe, den roten Faden nicht zu verlieren. „Und Miloš ist am selben Tag gegangen, weil er nicht alleine mit seinem Musikgeschmack übrigbleiben wollte.“
„Hattest du damals noch andere Vorlieben?“, hakt Cokko ein.
„Wieso?“, wundert Miloš sich.
„Willst du mir etwa einreden, euer Krach hätte mit Musik zu tun?“
Er springt auf, „Komm mit vor die Tür!“
„Nanana“, Lisanne klopft ihm auf den Arm. „Setz dich hin, reg dich ab.“
„Eins wüsste ich jetzt allerdings gerne“, fängt Cokko immer noch lachend an. „Wenn ihr alle Popmusiker wart, wieso wolltest du nicht alleine übrigbleiben als … Nicht-Popmusiker? Du musst es vorher schon gewusst haben, dass ihr mehr gemeinsam habt. Aber das gehört ja in deine schweigsame Phase ohne Sprachkenntnisse. Wie habt ihr das gemerkt?“

175

„Du kannst in der Küche essen“, tue ich ihren Einwand ab. „Wer geht und kauft ein paar Baguette und zwei Flaschen Weißwein? Dann kann ich schon mit kochen anfangen.“

Während ich mit der Zubereitung der Suppe beschäftigt bin, pendeln die anderen zwischen Küche und Balkon hin und her, trinken Saftschorle oder von dem Weißwein, der auch in die Suppe kommt und reden über alle möglichen Sachen. Miloš kommt vom Einkaufen (81), als Lisanne und Simone bei den Unterschieden zwischen unserer Band und der Jesus-Pop-Band angelangt sind. Er versucht ein paar Mal, sie auf ein anderes Thema zu bringen, aber Simone lässt nicht locker. Da verzieht er sich auf den Balkon.
Die beiden Mädels machen es sich am Tisch gemütlich. Jetzt sagt die Ältere: „Oft hat er sich beschwert, dass Jeremy nur zu den Proben übt und sich ansonsten nicht blicken lässt im Proberaum.“
„Hä?“, macht Simone, „Wofür soll er denn noch außerhalb der Proben üben? Dafür sind die Proben doch da?“
Sie lacht. „Meines Erachtens hat Eelco sich nicht daran gestoßen, dass Jeremy zu wenig geübt hätte, sondern dass er nicht üben musste. Und dass er zu vielseitig gewesen ist.“
„Trommeln und kochen!“, werfe ich ein, „Das soll mir mal einer nachmachen!“
„Und als wäre das nicht genug für eine Person, kannst du ja auch noch Minigolf spielen!“, schließt Lisanne sich an, „das müssen wir unbedingt noch mal machen!“
„Minigolf ist ein Tantensport“, bemerkt Simone.
„Sei dir da nicht zu sicher. Du hast nicht gesehen, wie Jeremy auf einer Bahn, die drei Schläge erfordert, den Ball mit einem ins Loch befördert hat.“
„Wie soll denn das gehen?“
„Mit Schwung“, gebe ich eine Erklärung.
„Ja, mit sehr viel Schwung“, kichert Lisanne. „Und Glück. Genie und Wahnsinn gehen ja meistens Hand in Hand. Wann ist übrigens das Essen fertig? Ich verhungere gleich.“
„In ein paar Minuten.“ Ich hole meine fünf größten Müslischalen aus dem Schrank, weil die Suppentassen zu klein sind. Wenn ich nur die Tassen nehmen würde, wäre die Suppe allenfalls eine Vorspeise.
Ich verteile die Suppe, dazu kommen frisch geröstete Weißbrotwürfel und über das Ganze etwas geriebener Parmesan. Für fünf Minuten stelle ich sie noch in den vorgeheizten Grill, dann können wir essen. Mit diesem Bescheid gehe ich ins Schlafzimmer, wo Cokko am Laptop sitzt und mit seinem Vater chattet. Für mich wären solche Unterhaltungsformen nichts, denn ich kann nicht halb so schnell tippen.
„Bist du genervt, weil hier so ein Getümmel herrscht?“, erkundige ich mich.
„Blödsinn“, vertreibt er meine Sorge. „Was du da kochst, riecht wahnsinnig gut. Dauert es noch lange?“
„Ist gleich soweit. Kannst dich ja schon mal auf den Balkon setzen.“
„Mach ich“, sagt er.

Vor einiger Zeit habe ich in einer stillen Stunde über angenehme Abende nachgedacht und wie man sie noch angenehmer gestalten könnte, sofern man sie auf dem Balkon zubringen möchte. Mir ist eine großartige Idee gekommen und ich habe einen Tisch gebaut, der nur zwei Beine hat, die andere Seite ist am Balkongeländer befestigt. Der Vorteil daran ist, dass er nicht viel Platz braucht, nicht kippelt und man den wenig mehr als handtuchbreiten Balkon trotzdem noch in seiner ganzen Länge begehen kann.
Leider ist die Idee, wie ich kurz darauf festgestellt habe, nicht besonders großartig. Der Tisch ist nämlich wegen dem Mangel an „Selbst-Ständigkeit“ nirgends sonst zu gebrauchen, außerdem hab ich ihn hier draußen zusammengebaut und nun passt er nicht mehr durch die Balkontür.
Daran kann man erkennen, dass es wahre Perfektion auf Erden nicht geben wird, denn selbst die am besten ausgedachte Idee hat Hinkebeine. Der Mensch ist einfach nicht in der Lage, etwas Perfektes zu machen. Perfekt ist nur Gott, das sieht man an seiner Schöpfung.