30. Juni 2015

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„Jahrelang ist er sich unsicher gewesen, ob er sich trauen soll, dich anzusprechen und dir seine Liebe zu gestehen, oder ob er damit einen Korb riskiert und dann nicht mehr hier willkommen sein wird. Er hat viel Zeit verstreichen lassen und auf einmal ist ihm aufgegangen, dass er nicht ewig leben wird und du auch nicht. Da hat er sich entschlossen, Nägel mit Köpfen zu machen. Und wie er so ist, hat er in seinem Überschwang die falschen Worte erwischt und jetzt denkst du, er will dich bloß ausnutzen, weil deine Küche besser sortiert ist als seine. Und er versteht nicht, was er denn falsch gemacht hat, schließlich hat er die selben Worte verwendet, die er dir sonst auch immer gesagt hat, und da bist du nie böse auf ihn gewesen. Aber dieses Mal hat er einen Satz gesagt, den er sonst nicht gesagt hat und auf einmal ist alles anders. Und der arme Kerl begreift es nicht.“
Tante O guckt mich eine Weile schweigend an, dann steht sie auf. „Werd mal mit dem Frühstück fertig“, sagt sie.
Ich lasse mich nicht abwimmeln. „Red mit ihm“, sage ich. „Dein Argument „in meinem Alter“ zieht nicht. Und es ist egal, was die Leute sagen. Es geht um dich und um ihn.“
„Ich wette, dass du nicht mal die Hälfte von deinen Weisheiten für dein eigenes Leben anwenden kannst.“
„Ich habs dir nur als Mann übersetzt“, sage ich und unterbreche ihr zuliebe mein Früh­stück. Gleich, wenn Cokko aufsteht, esse ich weiter.

Ich verziehe mich ins Wohnzimmer und höre Tante O in der Küche hantieren. Es klingt, als klappere sie übertrieben laut mit dem Geschirr, das sie aus der Spülmaschine holt und in die Schränke räumt.
Mit einem Mal gibt es ein lautes Klirren und eh’ ich drüber nachgedacht habe, bin ich schon aufgesprungen und in die Küche gelaufen.
Tante O steht da, mit einem halben Teller in der Hand, die andere Hälfte liegt zersplittert auf den Fliesen. Sie starrt mich an und sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
Au weia, das hab ich jetzt davon, denke ich und weiß ausnahmsweise mal nicht, was ich tun soll. Dann nehme ich ihr aber den kaputten Teller aus der Hand und lege ihn weg. Ich will sie in den Arm nehmen, aber sie wehrt ab. „Geh jetzt bitte. Lass mich in Ruhe“, sagt sie mit bemüht fester Stimme.
Stattdessen frage ich: „Soll ich ihn herholen?“
„Du weißt doch gar nicht, wer es ist.“
„Doch. Ferdinand.“
Sie erschrickt. „Ist es so offensichtlich? Redet man über mich?“
„Kann ich mir nicht vorstellen. Aber als du das vorhin gesagt hast, war mir alles klar.“ Ich hole tief Luft und biete noch einmal an: „Ich setz mich ins Auto und hol ihn her. Oder soll ich dich hinfahren? Was willst du lieber? Cokko wird nicht verhungern, bloß weil du ihm keinen Schinken brätst. Das krieg ich auch hin.“
Sie seufzt. „Ich bin so froh, dass du weißt, wie man mit alten Tanten wie mir umgeht. Du bist wirklich ein guter Junge. Deine Mommi kann stolz auf dich sein.“
Rasanter kann ein Rollenwechsel nicht vollzogen werden. Eben war ich noch ein Mann, der ihr einen anderen Mann erklärt, jetzt bin ich der kleine Junge. Aber was soll’s?

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„Nein. Wenn du nicht gestört werden willst oder das Haus verlässt, machst du natürlich zu. Wenn du Pensionsgäste hast, ist es aber noch mal was anderes. Du kannst die ja nicht einfach aussperren und jedem einen Schlüssel zu geben ist auch nicht praktisch. Die Hälfte der Urlauber wird am Abreisetag vergessen, den Schlüssel wieder abzugeben und dann muss man ständig neue machen. Also bleiben die Türen auf. Zuhause mache ich das auch so.“
„Tun das alle Niederländer?“
„Ich war noch nie die anderen, ich weiß das nicht“, sage ich, was ich auch Kindern sage, wenn die etwas wollen, was angeblich alle anderen haben oder dürfen: ‚du bist ja nicht die anderen’. „In den Städten ist es sicher nicht überall so, aber in ländlichen Regionen bleiben viele Türen noch auf. Natürlich bist du nicht dazu verpflichtet. Der eine macht’s, der andere nicht.“
„Ma hat das jedenfalls nicht gemacht.“
„Ihr habt auch nicht hier gewohnt“, gebe ich die Weisheit des Jahres von mir.

Abends führen wir unser zweites Telefonat mit Douglas. Er sagt, dass er mit meinem Vater telefoniert hat und dass der sich zu keiner Aussage hat hinreißen lassen, außer der, dass er mich umgehend nach Ende meines Inselaufenthaltes bei sich zuhause erwartet. (45)
Na, das klingt ja wirklich einladend!


neunundzwanzigstes Kapitel

Zufällig belauschen wir am Samstagnachmittag ein Telefonat von Tante O, in dessen Verlauf sie irgendwann erbost ruft: „Du bist ja verrückt!“ und „Was willst du von mir?“ und dann grußlos auflegt.
Was mag da vor sich gehen? Als wir die alte Tante kurz darauf wieder sehen, ist sie immer noch ziemlich ungehalten. Ich mache mir so meine Gedanken. Soll ich nachfragen? Immerhin ist Ieuwkje nicht da … Hat sie Sorgen? Ist was schlimmes passiert? Ich will einen Moment ab­passen, in dem ich mit ihr alleine bin, aber mindestens Cokko ist immer dabei.
Erst am nächsten Morgen ergibt sich beim Frühstück eine Gelegenheit und ich frage nach. Tante O winkt ab, „Das geht dich nichts an.“
Ich widme mich meinem Müsli und den „Eilanden-Nieuws“. Ja, sie hat Recht; was weiß ich schon von ihrem Leben, ich bin ja nur wenige Wochen im Jahr hier.
Unerwartet räuspert sie sich und sagt: „Ein Mann hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm den Lebensabend zu verbringen.“
„Oh!“, mache ich erstaunt. Mehr fällt mir nicht ein. Wobei – „Und wo ist da das Problem? Das ist doch toll?“
„Ach was, in meinem Alter!“, regt sie sich auf, „Und überhaupt, was will er denn von mir? Er behauptet, dass das Haus ja ganz leer ist, wo Ieuwkje nicht da ist, und er will zu mir ziehen. Aber zu Weihnachten ist sie dann zurück, dann ist es nicht mehr leer, und wie denkt er sich das denn?“
„Sagst du mir vielleicht, wer dieser Mann ist?“
„Nein“, schnaubt sie, „ganz sicher verrate ich dir das nicht!“
Ich weiß nicht warum, aber im selben Augenblick ist es mir völlig klar: es kann nur Ferdinand sein. Niemand sonst kommt in Frage, denn niemand sonst ist so oft hier, wirbt so ausdauernd um sie und reagiert so eifersüchtig, wenn zum Beispiel Henk charmant zu ihr ist.
„Hat er denn gesagt, warum er gerne zu dir ziehen möchte?“
„Nein“, macht sie grimmig, „und außerdem glaube ich ihm kein Wort von dem, was er sonst noch gesagt hat!“
„Oh je“, mache ich unwillkürlich.
Innehaltend hakt sie nach: „Was soll das heißen, oh je?“
„Soll ich dir das mal übersetzen, wie ich das verstehe, so als Mann?“, biete ich an.
„Nur zu.“

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„Ja, also meine Freunde. Wir sind vier in unserer Clique, nämlich Bill, Woody, Alec und ich. Woody ist Italiener, der heißt eigentlich Pino und weil da immer alle denken, er würde in Echt Pinocchio heißen, das ist ja dieser kleine Junge aus Holz, deswegen haben wir ihn irgendwann Woody genannt. Wir sind von Anfang an auf der selben Schule gewesen, aber jetzt … tja, wir sind fertig mit der Schule, Woody und Alec studieren und Bill macht eine Ausbildung. Das ist ziemlich schwierig geworden. Früher haben wir uns jeden Tag in der Schule gesehen und neuerdings müssen wir Termine machen, um uns zu treffen. Ich denk mir, das wird nicht einfacher werden, wenn ich wieder zurück bin.“
„Warum denn das?“
„Wenn man so seine Clique hat, entwickeln sich alle miteinander und man kann die Veränderungen verfolgen, wie etwas gekommen ist und warum sich jemand wie entwickelt hat. Oder man bekommt es gar nicht mit, weil es so langsam passiert. Wenn man aber woanders hingeht und auf einmal wieder kommt, sind die Veränderungen für die Kumpels ganz überraschend.“ Er steht auf und geht zum Fenster. Eine Weile schaut er raus auf die Straße, das heißt, er wird nur seine Spiegelung in der Scheibe sehen, denn draußen wird es wegen der dichten Wolken schon dunkel.
„Deswegen wollte ich eigentlich nicht so lange hier bleiben, höchstens einen Monat. Ich dachte, ein Monat ist nicht viel Zeit, da werde ich mich schon nicht so sehr verändern. Aber ich glaub, ich hab mich schon jetzt zu doll verändert, als dass ich zuhause noch dieselben Sachen machen könnte, die ich vorher gemacht habe. Ich würde schon jetzt nicht mehr die gleichen Sachen wie früher mit meinem Kumpels unternehmen. Die würden mich schon jetzt nicht mehr verstehen.“
„Tut es dir Leid um deine Freunde?“, frage ich.
„Ja“, antwortet er wie aus der Pistole geschossen, um sich gleich darauf zu verbessern: „Das heißt, nein.“ Cokko dreht sich wieder zu mir um. „Also, es tut mir Leid, weil wir uns lange kennen und wir viele Sachen zusammen gemacht haben. Die Erinnerungen, weißt du. Aber wenn ich mit meinem Freundeskreis total zufrieden gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich nie auf die Suche nach dir gemacht.“
„Und was meinst du, wodurch das kommt, dass du nicht so zufrieden mit denen gewesen bist?“, will ich interessiert wissen.
„Na ja, ich glaub, ich habe mich in den letzten Jahren anders entwickelt als die, auch wenn wir immer zusammen rumgehangen haben.“
Immerhin ist deine Mama gestorben, denke ich, und weil er abwesend guckt, denkt er wohl auch daran.

Jetzt geht die Tür auf und Ferdinand schaut ins Wohnzimmer. „Wo ist denn Oda?“, will er von mir wissen.
„Noch nicht wieder hier aufgetaucht.“
„Dann geh ich sie mal suchen.“
„Komisch“, sagt Cokko, als wir wieder alleine sind, „ich hab die Klingel gar nicht gehört. Oder hat er einen Schlüssel?“
Das verstehe ich nicht. „Welche Klingel hast du nicht gehört? Und warum sollte er einen Schlüssel haben?“
Cokko holt tief Luft. „Ferdinand ist vorhin nach Hause gegangen. Nein, wahrscheinlich ist er gefahren. Und jetzt taucht er einfach so wieder hier auf und ist im Haus? Wie ist er rein gekommen?“
„Durch die Tür“, gebe ich einen hilfreichen Tipp. „Klinke anfassen, Tür auf, rein, Tür zu.“
„Moment“, sagt er und geht aus dem Zimmer.
Nach kurzer Zeit ist er zurück. „Echt krass! Die Tür hat draußen genau dieselbe Klinke wie drinnen! Da hab ich ja überhaupt noch nicht drauf geachtet! Hat die Tante keine Angst, dass was geklaut wird? Jaja“, winkt er ab, „ich weiß, hier haben alle Leute eigene Sachen, sie müssen keine beim Nachbarn klauen. Trotzdem – stehen denn hier immer alle Türen auf?“

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„Eishockey. Das hab ich in unserer Schulmannschaft gespielt, ich war im Angriff. Und natürlich Skifahren, Snowboarden und klettern. Damit sieht’s ja hier nicht so gut aus, fürchte ich. Ich glaub, ich muss mir ein paar neue Sportarten ausdenken.“
„Du könntest Fußball spielen. Fast jedes Dorf hat mindestens einen Fußballverein. Und ach ja, wenn du gut im Schlittschuhlaufen bist, kannst du auch Eisschnelllauf machen. Dadrin sind wir Niederländer Weltspitze. Immer abwechselnd mit den Deutschen.“
„Ach, vielleicht fällt mir da selber was ein“, bremst er mich aus, um von etwas anderem zu reden: „Was ist neben Sport noch dein Hobby?“
„Trommeln. Und kochen. Ein paar Leute aus meiner Kirche haben eine Band, das ist die Jesus-Pop-Band, da spiel ich seit ein paar Jahren mit. Und dass ich gerne koche, wirst du dann ja mitkriegen, wenn du bei mir wohnst. Allerdings muss ich dich vorwarnen. Ich koche vollwertig-vegetarisch. Bei mir gibt’s kein Fleisch.“
Cokko nickt. „Ich glaube nicht, dass man ohne Fleisch verhungert. Habt ihr auch Auftritte, du und deine Band?“
„Eher selten. Wir spielen meist so für uns selber.“
„Wollt ihr nicht auf die Bühne?“
Ich hebe die Schultern. „Ich kann das bei der nächsten Bandprobe mal einbringen, aber … nee, das ist nicht so unseres.“ Ich gucke ein paar Atemzüge lang in die Gegend, dann sage ich: „Eigentlich … also ganz ehrlich, hab ich keine Lust drauf, mit der Band irgendwo öffentlich zu spielen.“
„Aha … warum nicht?“
Ganz ehrlich? Ich find die Musik voll peinlich. Die Band will mit ihren Liedern Gott anbeten. Das will ich auch. Aber nicht mit Popmusik.“
„Ach, warte“, unterbricht er mich, obwohl ich ja fertig war mit meinem Satz, „Deine Lieblingsmusik hat viel mit schneller Bewegung zu tun. Also magst du wahrscheinlich Punkrock. Ja?“ Gespannt guckt er mich an.
Ich muss lachen, „Ich hab es noch nie ausprobiert, ich kenne leider keine Punkband, die einen Trommler braucht, aber warum nicht? Einer aus der Band, also der Bassist, der ist auch kein Popmusiker. Vielleicht fangen wir irgendwann mal was eigenes an. Kannst du auch ein Instrument?“
„Nein, aber wenn ihr Punk macht, ist das ja nicht so wichtig, oder? Ich könnte Gitarre spielen, das wollte ich immer schon mal ausprobieren.“
„Ähm, ich glaub, Punk ist doch nichts für mich“, rudere ich eilig zurück. „Dafür bin ich zu perfektionistisch, und der Miloš gibt sich auch nicht mit halben Sachen zufrieden.“
„Aber warum geht ihr nicht weg von der Band, wenn ihr die Musik sowieso nicht mögt?“
Ach ja, die Frage, die sich jeder stellt. „Weil ich kein eigenes Schlagzeug habe. Ohne das kann ich nicht trommeln und was soll ich dann mit einer eigenen Band?“
„Hm, das stimmt natürlich.“
Ich habe keine Gelegenheit, mal nach seinen Hobbys zu fragen, denn Mister Themenwechsel ist mal wieder schneller: „Der Miloš – ist das dein bester Freund?“
„Nee. Mein bester Freund heißt Pieter. Wir kennen uns schon fast immer und er wohnt auch in Zuyderkerk. Mit dem Miloš ist das nicht so einfach, weil der nur sehr schlecht niederländisch kann. Außer der Musik haben wir nichts gemeinsam, glaub ich, zumindest haben wir noch nichts gefunden.“
„Magst du ihn also nur, weil er kein Popmusiker ist?“
„Oh weia, das sind jetzt aber mal Fragen!“, entfährt es mir.
Besänftigend hebt Cokko die Hände und sagt als Entschuldigung: „Das ist halt schwierig, über so völlig fremde Leute zu reden.“
„Gut, dann red doch mal über Leute, die du gut kennst. Zum Beispiel deine Freunde“, rege ich an, damit er nicht die ganze Zeit nur mich ausfragt.

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Verlegen sagt er: „Am liebsten Pommes und Steak mit Zigeunersoße.“
Sie nickt und fragt mich: „Für dich ein Seelachsfilet?“
„Gerne. Wenn du mich lässt, helfe ich dir dabei. Dann dauert es nicht so lange.“
„Helfen?“, lacht Ferdinand, „Gib es zu, du willst nicht helfen, sondern naschen.“
Henk findet das lustig. „Nee, Ferdinand, du hättest bestimmt nicht angeboten, dich mit in die Küche zu stellen, du wärst einfach so da aufgetaucht, um was aus dem Topf zu klauen!“
Die Gastgeberin ist kommentarlos in die Küche verschwunden und ich folge ihr. Wenn wir warten wollten, bis die beiden zu Ende gezankt haben, hätten wir abends immer noch nichts gegessen, Einigung hin oder her. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie um Tante O käm­pfen. Wenn die nämlich nicht dabei ist, sind die alten Streithähne ausgesprochen friedlich.

Nach dem Essen bittet sie um Ruhe, um ihren Mittagsschlaf machen zu können und auch ihre beiden alten Freunde verkrümeln sich. Cokko und ich gehen ins Wohnzimmer, wohin mein Bruder noch eine Nase voll Küchenduft mitnimmt. Während er sich in den altmodischen Ohrensessel fläzt und ich den Comic mit den lustigen Fischen nehme, in dem ich zuletzt auch schon gelesen habe, sagt er: „Die Tante O kann gut kochen. Besser als Pa.“
„Hat er bei euch zuhause gekocht oder Lucy?“
„Beide. Früher, als sie noch gearbeitet hat und er abwechselnd Früh- und Spätschicht hatte, hat er oft nach Frühschicht gekocht. Dann war Ma nämlich noch nicht zuhause, wenn ich aus der Schule gekommen bin. Unsere Schule hatte zwar eine Mensa, aber weil ich ganz in der Nähe gewohnt habe, bin ich oft über Mittag nach Hause gegangen. Natürlich nur, wenn einer da war.“
„Bist du gerne in die Schule gegangen?“
Er grinst. „Ja.“
„Und warst du auch gut?“
Er grinst noch mehr. „Ja. Und du?“
Erst mal muss ich was anderes wissen: „Warum grinst du so?“
„Ach, das hier hört sich sehr nach dem Beginn einer Freundschaft an. Wir quatschen über die Schulzeit und solche Sachen. Ich finds toll.“
„Ich auch. Also, ich bin meistens gerne in die Schule gegangen. Manchmal hatte ich keine Lust, dann wollte ich lieber andere Sachen machen. Manchmal hab ich geschwänzt, aber wenn Mommi oder Popp dahinter gekommen sind, gab es Ärger, da hatte ich noch weniger Lust drauf. Aber so insgesamt war es erträglich. Und ich war in allen Fächern gut, bei denen Stillsitzen nicht so wichtig ist. Also Sport, Werken und so weiter.“
„Als hätte ich es geahnt“, lacht er. „Welchen Sport machst du am liebsten?“
„Ich glaub, am besten bin ich im Tischtennis. Schwimmen kann ich auch gut. Früher hab ich am liebsten Basketball gespielt, aber das darf ich leider nicht mehr.“
„Warum nicht?“
„Ich hab mir mal bei einem Spiel fast alle Bänder im linken Knie zerrissen. Da meinte der Doc hinterher, Basketball wäre besser nicht mehr meine Sportart. Na ja, und die meisten anderen Sportarten mit mehreren Leuten und einem Ball auch nicht mehr. Das ist ziemlich schade, aber was soll’s. Ich brauche mein Knie noch ein paar Jahre.“
„Du hast es nicht so mit der linken Seite, he?“
„Warum?“
„Gestern oder vorgestern hast du von dem Ellbogenbruch erzählt, der war ja auch links.“
„Hm“, mache ich. Darüber hab ich noch nie genauer nachgedacht.
„Und Segeln und Radfahren?“
„Was ist mit Segeln und Radfahren?“, will ich wissen.
„Das sind doch auch Sportarten. Soweit ich das beurteilen kann, kannst du sie auch gut.“
„Nee. Das hat nichts mit Sport zu tun, sondern das ist Fortbewegung. Jetzt aber mal zu dir, was sind deine Lieblingssportarten?“

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Ungefähr fünf Sekunden lang herrscht totale Stille zwischen uns, dann grinst er: „Das geht nicht, dass wir uns nur gegenseitig Fragen stellen und nichts sonst sagen. So wird das keine Unterhaltung. Warum sagst du, dass du mich nicht besuchen kommen kannst?“
Weil wir so ehrlich miteinander umgehen, gebe ich mir einen Ruck und eröffne: „Ich hab keine Ahnung, ob ich Thrombosen kriege, davon hat noch kein Arzt irgendwas gesagt. Dass ich dich nicht besuchen kommen kann, liegt daran, dass ich Flugangst habe.“
Und was fällt meinem Bruder zu diesem Bekenntnis ein? Der lacht!
„Was ist so lustig an Flugangst?“, will ich ein bisschen beleidigt wissen.
„Sorry, das ist nicht lustig, aber es ist nicht so gefährlich wie Thrombosen.“
Ja, ich habe auch gehört, dass man davon sterben kann. Auf einmal wird mir fröstelig entlang der Wirbelsäule. „Ähm … ist sie … also deine – nein, unsere Mutter, ist sie an einer Thrombose gestorben?“
Da ist er wieder, der selbe Ausdruck wie in Douglas’ Augen, als er mich fragte „Weißt du denn gar nichts, du armer Kerl?“ (44)
Bevor er mich für etwas bedauert, für das ich nicht bedauert werden muss, füge ich hinzu: „Mommi hat es mir mal gesagt, aber … das war nicht wichtig für mich, da hab ich’s wieder vergessen.“
„Nein, sie hatte Krebs.“
Die Stille zwischen uns dauert länger als fünf Sekunden. Jetzt sieht mein Bruder aus, als habe er Bedauern nötig. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. In mir ist immer noch ein irres Durcheinander, sobald es nur um Lucy geht. Ich habe Jesus zwar gestern vorm Einschlafen gesagt, dass er sich bitte darum kümmern soll, also aufräumen, mein Herz heil machen und so weiter, aber weil ich ihn ja vorher jahrelang nicht in diese Rumpelkammer gelassen habe, denke ich, dass er auch ein bisschen Zeit braucht, bis eine erste Ordnung zu erkennen ist.

Cokko wechselt das Thema.


achtundzwanzigstes Kapitel

Tags darauf regnet es sowohl vor als auch nach der Elf-Uhr-Wetterscheide. Das ist (neben dem Datum – es ist der erste November) ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Winter kommt.
Ich kann Cokko, als er endlich aus dem Bett gefunden hat, nicht zu einem kleinen Strandspaziergang überreden, also mache ich mich alleine auf den Weg. Solange ich auf der Insel bin, will ich jeden Tag am Strand sein. Das gehört dazu.
Als ich eine Stunde später gut durchgelüftet zurückkehre, gehe ich dem Lärm nach ins Wohnzimmer, wo ich Tante O, Ferdinand, Henk und meinen Bruder vorfinde, die lautstark Skat spielen.
Tante Os Knopfdose steht auf dem Tisch, und so wie es aussieht, ist Cokko bald pleite. Er hat nicht die allerbesten Karten und dazu kein Glück.
Nach Spielende verzichtet er darauf, eine Revanche zu fordern, obwohl Ferdinand das gerne hätte, und Tante O bietet an: „Wenn ihr alle Hunger habt, könnte ich uns was kochen.“
„Das klingt gut“, bekunde ich, „Was gibt es denn?“
„Was möchtet ihr haben?“, gibt sie die Frage zurück.
Das sieht ihr ähnlich. Die gute Tante kocht gerne, was ihre Freunde mögen. Und am liebsten für eine ganze Horde. Je mehr gegessen wird, desto besser.
„Was ist denn da?“, will Cokko wissen, aber Tante O lacht. „Nein, so geht das nicht. Wenn wir jetzt immer weiter nur hin und her fragen, stehen wir heute Abend noch hier und haben nichts gegessen. Ich stelle die Fragen. Was möchtest du essen?“

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Ich bin fast schon wieder eingeschlafen, als er weiter redet: „Das ist nämlich so … Ich weiß nicht, wie das mit dir ist, aber ich … ich find dich echt toll. Ich wollte immer einen großen Bruder haben. Nicht irgendeinen, sondern einen wie dich. Aber … wie das so ist, für die älteren Geschwister ist es meist zu spät, wenn man dann schon da ist. Deswegen glaub ich, dass du ein echter Glücksfall für mich bist.“


siebenundzwanzigstes Kapitel

Am nächsten Tag reden wir über fast alles, aber nicht über das, was uns wohl beide am meisten bewegt.
Mittags sitzen wir im „Bistro am Fährpier“, das heute keinen Ruhetag hat (was es von allen anderen Restaurants hier am Hafen unterscheidet), und essen und schauen dabei auf die ankommenden und ablegenden Schiffe.
Ich kann das noch nicht ganz erfassen, was Cornelius gestern zu mir gesagt hat. Er möchte mich zum Freund haben. Meine bisherigen Freunde habe ich mir nicht ausgesucht – das heißt, natürlich habe ich sie mir ausgesucht, aber wir hatten vorher schon eine lange gemeinsame Zeit und irgendwann waren wir dann halt Freunde. Pieter und ich zum Beispiel waren früher Nachbarsjungen und haben immer zusammen gespielt und als wir in die Schule kamen, saßen wir an einem Tisch und waren Freunde. Aber keiner von uns ist in der Lage zu sagen, wann unsere Freundschaft angefangen hat.
Ich habe noch nie so einen förmlichen Freundschaftsantrag bekommen.
Und jetzt weiß ich nicht, ob Cornelius auch so einen von mir erwartet oder was ich tun soll.

„Du“, fängt er an, nachdem wir mit dem Essen fertig sind, „wenn du wieder nach Hause fährst, kann ich dann noch bei dir wohnen bleiben?“
„Klar“, sage ich.
„Ich meine, dein Urlaub geht ja auch nicht ewig, aber wenn ich die ganze Zeit im Hotel wohne, wird das ein bisschen teuer.“
„Das ist überhaupt kein Problem. Es ist genügend Platz und eine zweite Matratze kann ich schnell auftreiben.“
„Und wenn du das nächste Mal Urlaub hast, kommst du mich dann auch besuchen?“
Diese Frage habe ich befürchtet. Wie soll ich ihm klar machen, dass das nicht geht – ohne ihn zu enttäuschen? Denn enttäuscht wäre er, wenn ich einfach absage, soviel ist klar. Er steckt schon in diese Frage alle seine Erwartungen, die Freude, mir seine Welt zu zeigen und die Spannung, wie ich wohl auf alles reagieren werde.
Die Pause anstelle der Antwort ist ihm genug, man sieht es ihm an.
Wenn ich nicht will, dass die Beziehung, die zwischen uns entsteht, gleich in ihrem zarten Anfangsstadium den ersten Knacks kriegt, muss ich mir etwas einfallen lassen. Gott meldet sich jetzt auch zu Wort: Wie wär’s, wenn du ihm einfach die Wahrheit sagst?, fragt er.
„Du, Cornelius … ähm“, fange ich an, und denke auf einmal: Er hat Recht, sein Name ist wirklich zu lang, um ihn mit seinen ganzen Buchstaben ständig aufzusagen. Aber wenn ich jetzt einfach so anfange, ihn Corn, Corny oder Nelly zu nennen, klingt das komisch, dafür habe ich ihn bisher zu hartnäckig mit dem kompletten Namen angesprochen. Außerdem, ganz ehrlich – sie gefallen mir nicht. Ich könnte mir etwas Neues ausdenken. Cokko zum Beispiel. Erst mal werde ich ihn in Gedanken so nennen, damit ich mich dran gewöhnen kann. Mal sehen, was er davon hält.
Mein Bruder guckt mich komisch von der Seite an, weil ich mir zuviel Zeit lasse zum Denken. Also rede ich lieber mal weiter: „Versteh das bitte nicht falsch“, beginne ich von vorne, und weil ich merke, dass es sich wie eine billige Ausrede anhört, setze gleich noch einmal an: „Ich kann dich nicht besuchen kommen. Das liegt aber nicht an dir, denk das bitte nicht. Es ist nur … Schiffsreisen bis nach Amerika sind viel zu teuer. So viel Geld hab ich einfach nicht.“
„Schiffsreisen?!“, fragt er, als zweifle er an seinem Gehör.
„Ja“, sage ich. „Ich kann in kein Flugzeug steigen.“
Entsetzt guckt er mich an, „Kriegst du etwa auch Thrombosen?!“
Mindestens ebenso entsetzt gucke ich zurück: „Ist das erblich?!“

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„Tja, so war es aber. Wir hatten nie besonders viel miteinander zu tun. Vielleicht hat Lucy dir ja erzählt, dass er sie nur geheiratet hat, um seinen Vater zu ärgern und diese ganze Sache. Ich weiß gar nicht, ob die beiden sich überhaupt geliebt haben. Also so verknallt waren sie, sonst wären sie wohl nicht miteinander ins Bett gegangen, aber Mommi hat gesagt, dass es keine feste Beziehung war. Gerrit wollte nie was Festes, der wollte nur seinen Spaß. Deswegen konnte es mit der Ehe von vornherein nichts werden.“
„Ja, das hat sie auch gesagt. Trotzdem, Jeremy, bitte glaub mir das. Es war ihr nicht egal, wo du bist und sie hätte dich gerne hier gehabt. Sie hätte dich auch sehr, sehr gerne besucht, aber das ging ja leider nicht.“
„Wieso ging das nicht?“, bin jetzt ich es, der sich wundert.
„Ach du liebe Zeit, weißt du denn gar nichts, du armer Kerl?“, fragt Douglas voller Bedauern. „Sie hatte oft Thrombosen und durfte keine langen Flüge unternehmen. Schon der erste Flug zu mir war sehr gefährlich für sie, aber das wusste sie da noch nicht. Das haben die Ärzte erst danach festgestellt. Sie durfte auch nicht noch einmal schwanger werden, aber zum Glück hat sie unseren wunderbaren Unfall überlebt. Du weißt doch, was eine Thrombose ist?“
„Ja, so Zeug mit Blutklumpen und so, die dann im Herz stecken bleiben“, umschreibe ich vage.
„Ein langer Flug kann eine Thrombose hervorrufen beziehungsweise beschleunigen und eine Schwangerschaft und die Presswehen in einer Geburt auch. Es gibt noch andere Risikofaktoren, aber das ist uns jetzt nicht so wichtig. Ich frage mich wirklich, warum Gerrit dir das nicht gesagt hat. Ich werde ihn morgen anrufen. Wusste das denn deine Oma?“
„Woher soll ich wissen, was sie weiß? Ich denke mal, sie hat es nicht gewusst, sonst hätte sie es mir ja gesagt.“ In meinem Kopf herrscht nur noch Durcheinander. Trotzdem kommt mir der Gedanke, dass Mommi sicher nachgefragt hat, was mit Lucy ist, schließlich war das ja meine Mutter. Was hat ihr schrecklicher Sohn ihr dazu gesagt? (43)
Douglas unterbricht das Wirrwarr in meinem Gehirn: „Jeremy, Cornelius, es war sehr schön, euch zu sehen und zu hören, aber wir müssen unser Gespräch leider unterbrechen. Ich habe gleich einen Termin mit einem Kunden, den kann ich nicht verschieben. Lasst uns doch morgen um diese Uhrzeit weiter sprechen, ja?“
Erst als mein Bruder den Computer ausschaltet, fällt mir auf, dass Douglas die ganze Zeit Niederländisch mit uns geredet hat. Es klingt genau wie das Niederländisch, mit dem Cornelius mich vor wenigen Tagen in Zuyderkerk angesprochen hat. Ein bisschen fremd, ein bisschen holprig. Aber irgendwie auch sehr sympathisch. Ich glaube, das liegt daran, dass Doug­las ebenfalls sehr sympathisch ist. Und Cornelius ist es auch.

Kurz bevor ich eingeschlafen bin, sagt mein Bruder: „Du, Jeremy … bist du noch wach?“
„Nein.“
„Können wir reden?“
„Wenns sein muss.“
„Ja, muss es. Wach auf und hör zu.“
Ich seufze. „Ich bin wach und höre zu.“
„Ich muss das einfach mal loswerden. Ganz ehrlich, ich war nicht ein bisschen genervt, sondern ich war ziemlich böse auf dich. Und das tut mir Leid. Weil du das ja alles nicht wusstest mit der Thrombose und so. Und weil das alles auch nicht an dir gelegen hat, sondern an deinem Vater. Und … vielleicht können wir ja ein paar Sachen finden, die wir gemeinsam haben, nicht nur die selbe Mutter und dass wir uns ähnlich sehen.“
Eine Pause entsteht, und weil ich auch nicht weiß, was ich sagen soll, wird es eine ziemlich stille Pause.

83

„Pa ist im Qualitätsmanagement einer Firma, die Kurbelwellen, Kolben und Zylinder für Landmaschinen herstellt.“
„Aha, bestimmt ist das John Deere“, versuche ich mal etwas Kluges von mir zu geben.
„Wie kommst du darauf?“
„John Deere ist doch eine amerikanische Firma?“
Er verdreht die Augen. „Ja, und wir sind Kanadier, haben also mit einer US-amerikanischen Firma nichts zu tun. Außerdem ist MTS ein Zulieferbetrieb, der keine eigenen Fahrzeuge baut. Wärst du so freundlich, nicht immer Kanada und die USA in einen Topf zu werfen? Das nervt echt. Und jetzt setz dich hin, dann erklär ich dir, was ich mache.“
„Ähm“, fange ich an, „ich glaub … spar dir das. Wenn Pieter, das ist mein bester Freund, also wenn der mir was am Computer erklärt, kapier ich immer nur Bahnhof.“
Cornelius klickt herum und gibt Zahlen ein und klickt und wartet. Kurz darauf höre ich ein Tuten im Raum und dann eine Männerstimme kanadische Wörter sagen, die ich nicht verstehe. Mein Bruder antwortet etwas, wir hören ein bisschen Warteschleifenmusik (und werden auf englisch und französisch aufgefordert, bitte nicht aufzulegen) und dann eine andere Männerstimme. Das scheint sein Pa zu sein, denn auf einmal hat er Tränen in den Augen. Diskret verlasse ich den Raum. Wenn in Kanada sowieso erst abgeklärt werden muss, wann unser Telefonat stattfinden darf, kann Cornelius das sicher auch ohne mich regeln und dabei ein paar Worte zu seinem Vater sagen, die mich vielleicht nichts angehen oder die ich nicht hören soll.

Fünf Minuten später tritt Cornelius raus auf den Flur. „Kommst du bitte mit? Mein Pa möchte dich sehen.“
Das klingt, als sei er in Echt im Zimmer. Ich darf mich auf dem Bürostuhl niederlassen und mein Bruder nimmt den anderen Stuhl, den ich eben noch dazu geholt hatte.
„Hallo Jeremy“, erklingt es aus Calgary und dem Lautsprecher. Auf dem Monitor ist die obere Hälfte eines Mannes mit Bart und braunen Haaren zu sehen. Auffällig sind seine knallblauen Augen.
Eilig decke ich die Hand über das, was ich für das Mikrofon halte und frage leise: „Wie heißt er? Du hast mir seinen Namen nicht gesagt, ich kann doch nicht „Pa“ zu ihm sagen!“
Der Kanadier mit dem schottischen Nachnamen lacht und stellt sich vor: „Mein Name ist Douglas, oder sag Doug zu mir, das tun viele.“ Dann kommt er gleich aufs Thema zu sprechen: „Cornelius hat erzählt, dass ihr ein paar Schwierigkeiten wegen eurer Mutter habt. Wie kann ich euch da weiterhelfen?“
„Jeremy behauptet, dass Ma kein Interesse an ihm gehabt hätte–“
„Ich behaupte das nicht, sondern es ist so“, unterbreche ich.
„Ist es nicht!“
„Jungs, hört auf zu streiten“, sagt Douglas. „Jeremy, erklär du es mir. Und du, Cornelius, bist bitte still.“
„Also, ich sage, dass sie kein Interesse an mir gehabt hat, weil sie mich nie hier besucht hat. Und sie hätte mich mitnehmen können, als sie nach Kanada ausgewandert ist oder später irgendwann. Aber das hat sie nicht gemacht. Und Cornelius hat gesagt, dass er findet, dass ich auch mal einen Brief hätte schreiben können, wenn zum Beispiel Gerrit Fotos von mir geschickt hat, aber das ist so: ich wusste gar nicht, dass er das tut. Und ich wusste auch nicht, dass es Cornelius gibt. Wieso hätte ich da Briefe schreiben sollen? Deswegen denk ich, dass es keinen interessiert hat, was mit mir ist. Und deswegen nervt es mich, dass Cornelius die ganze Zeit von seiner tollen Mutter schwärmt, die für mich jedenfalls nie Zeit hatte.“
„Und du hast nie nachgefragt, wo deine Mutter ist?“, wundert Cornelius sich.
„Doch natürlich hab ich nachgefragt, aber dann hieß es, die ist in Kanada, und weiter nichts. Als kleines Kind hab ich geglaubt, Kanada ist ungefähr so weit weg wie der Mond, nur dass man das nachts nicht leuchten sieht.“
Douglas schmunzelt, wird aber schnell wieder ernst. „Ich kann das gar nicht glauben, dass dein Vater so gleichgültig mit dir umgegangen ist!“

82

„In Prinzip doch. Am ersten Augustwochenende ist die Strandfete, Dersummeroogs größte öffentliche Party, und da hab ich in den letzten fünf Jahren auch mitgemacht.“
„Hast du nicht gesagt, dass du nicht so ein Feiertyp wärst?“
„Doch, habe ich. Aber besondere Umstände erfordern besondere Ausnahmen.“
„Eine Ausrede für fast alles“, brummt er.

Das Ladenlokal, in dem sich meiner Erinnerung zufolge das Internetcafé befand, enthält ein Geschäft mit Taschen, Jacken, Strandspielzeug, Geschenkartikeln und so allerhand Kram. Eine Verkäuferin ist noch drinnen und staubsaugt die Fußmatten, und ich frage sie, wo das Café hingezogen sein könnte. Sie weiß davon nichts, sagt sie, und es hat auch niemand mal von einem Internetcafé gesprochen, in all der Zeit, die sie schon hier arbeitet. Ich frage nach, wie lang das ist und sie sagt, dass es ungefähr drei Jahre sind.
Als wir wieder auf der Straße stehen, lacht Cornelius mich aus: „Seit über drei Jahren ist hier schon ein ganz anderer Laden und du glaubst immer noch, dass ein Internetcafé drin ist? Scheint so, dass du dich nicht besonders gut auf deiner Lieblingsinsel auskennst.“
Ich winke ab. „Internetcafés sind halt nicht wichtig für mich, und Strandspielzeug brauche ich auch nicht.“
„Und was machen wir jetzt?“
„Nach Hause fahren und morgen in die Bücherei gehen.“
„Kannst du nicht einen von deinen Kumpels hier auf der Insel fragen? Die sind bestimmt nicht alle so … ähm, technisch gesehen rückständig wie du.“
„Mit den Leuten hab ich überhaupt nichts zu tun, außer wir sehen uns in der Kneipe oder bei der Strandfete oder es wird mal gegrillt. Ich käme mir sehr komisch vor, wenn ich sie jetzt einfach so um einen Gefallen bitten würde.“
„Ich dachte, du und der Anno, ihr wärt Freunde.“
„Nee. Seine Perle ist eine gute Freundin von meiner Ex.“

Als wir zurück in der Pension sind, erweist sich, dass wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben. „Geht doch an meinen Computer“, lädt Tante O uns ein, nachdem sie von unserem Kommunikationsproblem erfahren hat. „Wartet, ich räume ein bisschen auf, damit ihr beide Platz habt.“
„Das könnte aber ein bisschen länger dauern“, deutet Cornelius an.
„Morgen früh um sieben möchte ich in dem Raum meine Frühgymnastik turnen, bis dahin habt ihr Zeit. Da kann es von mir aus auch ein bisschen viel länger dauern.“
Ihr Computer steht im Büro, das sich im Anbau befindet. Drinnen erwarten uns moderne Bücher- und Aktenregale, ein Schreibtisch mit besagtem Computer nebst großem Bildschirm und Multifunktionsdrucker.
„Wow“, entfährt es mir beeindruckt.
„Dachtest du, ich mache meinen Zimmerbelegungsplan auf Papier?“, lacht die alte Tante mich aus. „Ich gebe ja zu, ich habe mich eine Weile gegen die Sachen gesträubt und es ist nur Ieuwkje zu verdanken, dass immer alles so gut funktioniert, aber ich kann mir die Arbeit nicht mehr ohne vorstellen.“
Sie zeigt mir, wo ich einen zusätzlichen Stuhl finde und lässt uns dann alleine.
Auf einmal habe ich keine Lust mehr, mit Cornelius’ Pa zu reden. „Muss das wirklich heute sein? Es ist doch schon so spät.“ Vor allem habe ich keine Lust, über Lucy zu reden.
„Dann ist es umso besser, denn du musst zwischen eurer Zeitzone und unserer Mounten Standart Time acht Stunden zurückrechnen. Wenn es hier also gerade zehn Uhr abends ist, ist zuhause früher Nachmittag. Wahrscheinlich erwischen wir Pa an seiner Arbeitsstelle, aber vielleicht kann er eher Feierabend machen. Mr. Jones, das ist sein Chef, hat bestimmt Verständnis dafür, wenn er hört, dass ich so weit weg bin.“
„Versteht er sich gut mit seinem Chef?“
„Ja. Sie kennen sich schon seit der Uni.“
„Was arbeitet er denn eigentlich?“

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Erschrocken schaut er mich an. „Glaubst du echt, dass es so war? Wenn das okay ist für dich, rufen wir meinen Pa an und fragen ihn. Er hat mal gesagt, dass er und Ma erst zwei Jahre so befreundet waren, bevor sie zusammen gekommen sind, und in der Zeit haben sie sich alles gegenseitig erzählt, was ihre Leben so ausgemacht hat. Da hat sie ihm ganz sicher auch von dir erzählt und warum du nicht bei uns gelebt hast.“
„Willst du es von mir wissen oder von deinem Pa? Warum fragst du mich dann überhaupt?“, murre ich.
„Jeremy, bitte! Kannst du nicht verstehen, was das für mich bedeutet? Meine Eltern sind die wichtigsten Menschen in meinem Leben gewesen, das heißt, mein Pa ist es immer noch. Und sie war auch deine Mutter.“ Er macht eine Pause und ich setze mich wieder hin, allerdings nicht neben ihm aufs Bett. Ich räume meine Reisetasche von dem Stuhl und lasse mich dort nieder. „Und wie willst du deinen Pa anrufen, etwa mit dem Handy? Das gibt die Telefonrechnung des Jahrhunderts, schätze ich.“
Jetzt grinst er. „Mein Handy ist internettauglich. Es gibt doch bestimmt W-Lan hier im Haus, oder?“
„Was gibt es?“
„Eine drahtlose Internetverbindung?“
„Kann sein, dass Ieuwkje so was hat, aber sie ist nicht da.“
„Wann kommt sie wieder?“
„Zum Jahresende.“
Wann kommt sie wieder?“
„Sie ist gerade auf einer Sprachreise durch Argentinien, hatte ich dir das nicht erzählt? Ende Dezember wird sie zurück sein.“
Ergeben zuckt er die Schultern. „Wo könnten wir erfolgreicher sein?“
„Was willst du überhaupt damit? Sollen wir uns Emails schreiben mit deinem Pa?“
Cornelius verdreht die Augen. „Schon mal was vom Chatten gehört?“, versucht er offenbar, die Einstiegsschwelle niedrig zu halten.
Mir ist sie zu hoch. „Nein.“
„Okay. Aber was Internent ist, weißt du schon?“, unterbricht er sich und weil ich nicke, redet er weiter: „Wenn beide Computer die gleiche Ausstattung haben, also Kamera, Mikro, Lautsprecher und so, kann man übers Internet telefonieren und sich dabei angucken. Man kann sich auch mit internetfähigen Mobiltelefonen einwählen. Allerdings brauche ich dafür natürlich ein Netz.“
„Aha. Übrigens kannst du mir jetzt auch mal was erklären, von dem ich keine Ahnung habe“, erwähne ich.
„Das stimmt, du bist ja gar nicht allwissend!“, witzelt er und hakt nach: „Und wo könnten wir so was kriegen?“
„In der Bücherei … nein, die hat längst zu … in West gab es mal ein Internetcafé. Wir könnten hinfahren und gucken, ob es noch da ist.“
„Müssen wir mit dem Fahrrad fahren? Ich hab immer noch Muskelkater.“
„Müssen wir nicht.“ Ich schaue zur Uhr, „In einer Viertelstunde hält an der Kirche ein Bus nach West.“

Während wir zur Bushaltestelle im Ortskern gehen, fragt mein Bruder: „Weißt du den ganzen Busfahrplan der Insel auswendig?“
„Blödsinn. Aber der Bus nach West fährt in der Hauptsaison tagsüber alle zehn Minuten und abends alle zwanzig, in der Nebensaison immer alle zwanzig und außerhalb der Saison tagsüber alle dreißig Minuten und abends nur noch stündlich. Das ist ja einfach zu merken.“
„Ich hätte schon Probleme dabei, welche Saison gerade ist.“
„Nein, das ist leicht. Und in der Hauptsaison ist es rappelvoll auf der Insel.“
„So richtig rappelvoll?“, fragt er interessiert.
„Ja. Kein Vergleich zu jetzt. Da du aus einer Großstadt kommst, wird dir das gefallen.“
„Dir gefällt es also nicht? Na ja, du musst ja nicht herkommen.“

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„Nein, er ist mit dem Auto gekommen, aber er musste sicher nicht selber fahren. Nein, er hatte keine hundert Bodyguards. Er hat sich einfach so unters Volk gemischt. Natürlich war ein Sekretär oder so jemand dabei, der ihm die Leute vorgestellt hat und einer, der die Mappe mit der Eröffnungsurkunde getragen hat und hinterher den Blumenstrauß. Ja, natürlich war ich aufgeregt, aber weil er ganz normal war, ging es mir bald besser. Er hat mich einfach gefragt, warum ich diesen Beruf lerne und was meine Ziele sind und so. Und dann hab ich ihn gefragt, wie seine Schulzeit war und was er jetzt besser machen würde, wenn er Lehrer wäre. Da hat er gelacht und gesagt, dass er früher Geschichtsunterricht ganz schrecklich fand, aber weil das ja die Geschichte von seinem Volk und dem Land und seiner Familie ist, ist er nie drum herum gekommen.“
„Gibt’s da eine Prinzessin in meinem Alter? Ich könnte in die Sippe einheiraten und wäre dann der erste Prinz von Kanada. Das wäre doch mal was, oder?“, grinst er.
„Du kommst auf Ideen“, grinse ich mit.


sechsundzwanzigstes Kapitel

Weil das Wetter an diesem wie auch dem folgenden Tag recht herbstlich verhält, steigen wir auf den Leuchtturm in West, gehen ins Aquarium nach Kinnum, um exotische wie „einheimi­sche“ Fische anzuschauen und besuchen erst das Heimatmuseum in Landerum und dann auch noch das in Formerum, weil uns nichts besseres einfällt. Das ist auch für mich mal ganz lehrreich und interessant, denn normalerweise geht man ja nur in der Ferne (42) ins Museum, denn zuhause kennt man ja schon alles. Angeblich.
Am ersten Abend versacken wir im „Meeuwenpoep“; am nächsten Tag finden wir uns nach einem windigen und verregneten Strandspaziergang im Wellenbad ein, weil man da nicht viel tun muss, sondern einfach faul rumhängen kann.
Abends biete ich an, ins Kino zu gehen, aber Cornelius sagt, dass er mich etwas fragen will und wir dafür möglicherweise viel Zeit brauchen werden, deswegen will er nichts unternehmen.
Weil Tante O, Henk und Ferdinand das Wohnzimmer besetzt halten, gehen wir mit ein paar Getränken und Knabberkram in unser kleines Zimmer.
„Also, worum geht’s denn?“, will ich wissen, als wir es uns auf dem Bett (und auf der Tagesdecke, damit mein Bruder nicht zwischen Chipskrümeln schlafen muss) gemütlich gemacht haben.
„Ich will gerne wissen, warum du immer so genervt reagierst, wenn ich was von Ma erzähle. Erst habe ich ja gedacht, ich beachte es gar nicht, aber du rollst immer mit den Augen und so, und das nervt mich.“
„Tja“, mache ich.
„Nein, ich will nicht „tja“ hören, sondern ich will wissen, warum du das tust. Ich will wissen, was sie dir getan hat. Und ich will auch wissen, warum du nie einen Brief oder so was geschrieben hast, wenn Gerrit Fotos von dir geschickt hat. Er hat sie doch auch mal besucht, warum bist du nicht mitgekommen? Sie hätte sich gefreut, weißt du.“
„Ich will aber nicht drüber reden, okay?“, mache ich, stehe auf und gehe zum Fenster.
„Nein. Nicht okay. Ich glaub, ich habe ein Recht drauf, das zu erfahren. Ich bin um die halbe Welt geflogen um dich zu treffen. Bis jetzt haben wir uns eigentlich ganz gut verstanden, und auf einmal machst du dicht?“
„Aber ich kenn dich ja kaum“, sage ich, um Zeit zu gewinnen.
„Zur Hälfte haben wir das gleiche Erbgut, und die andere Hälfte lernst du noch kennen, wenn du uns die Chance gibst. Erklär es mir.“ Er guckt mich an und schickt ein „Bitte“ nach.
„Ich glaub nicht, dass sie sich gefreut hätte, wenn ich sie besucht hätte. Schließlich hätte sie mich mitnehmen können, als sie das erste Mal nach Kanada geflogen ist. Oder sie hätte mich später abholen können. Das hat sie nicht gemacht. Warum nicht? Es war ihr wohl nicht so wichtig, dass ich bei ihr bin.“

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Das Frühstück nehmen wir fünf Minuten lang gemeinsam ein, denn ich werde gerade fertig, als Cornelius die Treppe herunter kommt. Verschmitzt lachend fragt er: „Sag mal, was ist das, was du nachts so treibst? Hochleistungssport? Dauernd guckt mindestens ein Fuß raus, oder ein Arm, dann rutscht die Decke runter, dann sitzt du im Bett, als nächstes hast du die Füße unterm Kissen und den Kopf am Fußende, stehst auf und so weiter!“
Anscheinend hat er mich auch beim Schlafen beobachtet. Seit Kindertagen habe ich einen sehr bewegten Schlaf. Entgegen aller Prognosen hat sich das weder mit dem Beginn noch dem Ende der Pubertät gelegt.
„Es war einmal ein verzauberter Prinz, der musste die schöne Tochter der Königin aus den Fängen eines Untiers befreien. Jede Nacht kämpften der Prinz und das Ungeheuer miteinander, und wenn sie nicht gestorben sind, dann wohnen sie am Strand“, erzähle ich. Dieses Ultrakurz-Märchen habe ich mir gerade ausgedacht. Auch wenn es nicht klar aus meinen Ausführungen hervorgeht, habe ich die Rolle des Prinzen für mich eingeplant und nicht die des Untiers. „Wusstest du nicht, es gibt hier noch Drachen.“
„Klar. Winddrachen.“ Er lacht und tippt sich an die Stirn. „Und von welcher Königin soll diese schöne Tochter sein? Wo gibt’s denn überhaupt noch eine Königin, außer vielleicht bei den Disneys?“
Mein schöner Bruder hat zwar keine Ahnung von Gezeiten und den anderen Vorgängen an der Küste, das ist aber noch zu verzeihen. Doch dass er mit seiner doppelten Staatsangehörigkeit keinen blassen Schimmer von der Geschichte seines Mutterlandes hat, ist schon eine ganz andere Sache. „Hier. Du befindest dich gerade im Königreich der Niederlande.“
„Und ich dachte, ihr hättet eine Demokratie“, stellt er kopfschüttelnd fest und gießt sich ein Glas Milch ein.
„Die Niederlande sind ein demokratischer Staat mit konstitutioneller Monarchie“, lege ich los. „Das heißt, dass die Königin sich zwar in die Politik einmischen darf, wenn sie das für angebracht hält, aber sich trotzdem nach dem Ministerpräsidenten richten muss. Eigentlich ist das Königshaus mehr für repräsentative Zwecke da.“
„Ziemlich teuer, ein ganzes Königshaus, nur damit es schön aussieht.“
Das stimmt, teuer ist es. Aber ich bin ein Befürworter der Monarchie, deswegen lasse ich den Einwurf nicht gelten. „Du verstehst nichts davon, weil es in Amerika nach den Azteken keine Monarchie mehr gegeben hat. Hast du die Königin überhaupt schon mal gesehen?“
„Wohnt sie hier auf der Insel? Wenn nein, dann nicht. Ich habe noch nicht viel vom Land gesehen, falls du dich erinnerst.“ Spöttisch fügt er hinzu: „Du bist wahrscheinlich jeden Sonntag bei der Königin zum Kaffee eingeladen?“
„Nein. Ich hab aber mal mit einem der Prinzen gesprochen. Er hat die Pabo in Alkmaar besucht, als die–“
„Was ist das, Pabo?“, unterbricht er mich, „bestimmt eine Abkürzung, oder? Das ist echt das schlimmste, dass ihr Niederländer ständig mit den Abkürzungen um euch werft, als würdet ihr dafür bezahlt.“
Mir ist nicht bewusst, dass wir besonders viele Abkürzungen im Sprachgebrauch hätten, aber ich bin auch nicht der Richtige, um das zu beurteilen. Ich bin nicht in einem fremden Land. „Das ist die pedagogische academie basisonderwijs. Eine Hochschule speziell für Lehrer und Unterrichtshelfer“, liefere ich als Erklärung gleich mit. „Jedenfalls ist er gekommen, weil die Pabo Alkmaar damals ein neues Gebäude eröffnet hat. Und weil sie es nach dem Prinzen benannt haben, ist er natürlich zum Einweihen gekommen.“
„Aha“, macht mein Bruder, „Und warum hat er ausgerechnet mit dir geredet?“
Ich hebe die Schultern. „Weiß ich nicht. Da stand ein Riesenpulk von Leuten rum und er hat sich halt umgeguckt, mit wem er ein paar Worte wechseln will.“
„Ist er mit einem goldenen Hubschrauber gekommen? Und hatte er hundert Bodyguards dabei? Und warst du aufgeregt?“, lässt er jetzt Fragen am laufenden Band ab.

28. Juni 2015

78

„Wenn was kaputt ist, ruft Tante O mich an und ich komme und repariere den Kram. Das ist für sie günstig, weil sie keinen Handwerker braucht und für mich ist es schön, weil ich gerne hier bin und auch gerne segle. Von Kilometergeld ist da keine Rede, eher müsste ich Vergnügungssteuer zahlen. Frag mich jetzt aber nicht, wer das dann kriegt, das tut hier auch gar nichts zur Sache“, beende ich das thematische Intermezzo kurzerhand, „Eigentlich ging es ja um den Kühlschrank. Geht dir dabei allmählich ein Licht auf?“, erkundige ich mich freundlich. Der Kühlschrank hat es leicht, der braucht nur einen, der ihm die Tür öffnet, damit ihm ein Licht aufgeht.
„Also darfst du die Sachen essen, die du mitgebracht hast. Oder wie?“
„Nein. Da ich mich an der Arbeit beteilige, darf ich mich auch dran beteiligen, dass der Kühlschrank nicht aus allen Nähten platzt“, werde ich deutlicher. „Ich gehöre sozusagen zum Haushalt, ich darf überall mitmachen. Bloß vor den Mahlzeiten habe ich in der Küche nichts zu suchen, allenfalls zum Zugucken. Kochen ist Tante Os Aufgabe, und dann habe ich mich wie ein Gast zu benehmen. Ansonsten mache ich aber oben die Betten und lege neue Handtücher raus, und wenn jemand die Heizung auf fünf dreht, das Fenster offen lässt und dann aus dem Zimmer geht, so wie das heute morgen im Bad war, dann räume ich da auch auf.“
Der Jemand, den ich damit meine, lässt sich nicht anmerken, ob er sich angesprochen fühlt. „Da du gerade dabei bist, mir die Welt zu erklären, könntest du mir noch erklären, ob ich auch mit Tante O verwandt bin, oder ob sie aus deiner väterlichen Verwandtschaft stammt.“ Dabei fällt ihm noch etwas ein. „Außerdem, ob ich sie auch einfach so mit Du anreden darf. Schließlich machen das hier alle so. Ich hab’s ihr angeboten, aber sie mir nicht. Das finde ich ein bisschen doof“, bekennt er.
„Diese allen, die das machen, kennen Tante O schon ziemlich lange. Bei mir hat es ungefähr drei Jahre gedauert, bis sie mir das Du angeboten hat. Deswegen würde ich sagen, überlass es ihr, wann sie dich in ihren Haushalt aufnehmen will. Ich weiß nicht, nach welchem System sie da vorgeht. Vielleicht ist es eine Vertrauensfrage. Sie kennt dich erst ein paar Tage“, erinnere ich ihn. „Du kannst das eigentlich noch nicht erwarten, schließlich ist sie eine ganz andere Generation als wir.“
Cornelius zuckt die Schultern. „Und die Verwandtschaft?“, bohrt er nach.
„Keiner von uns beiden ist mit ihr verwandt. Sie ist Ieuwkjes Tante. Bevor du fragst, O ist die dringend notwendige Abkürzung von dem unglaublich langen Namen Oda. Sie ist sozusagen eine Adoptivtante.“
„Ah“, dehnt er, „und wer sind „wir“?“
„Der Pluralis Majestatis, ist doch klar“, sage ich lachend. Wir, König Jeremy Willem I., Herrscher von Gottes Gnaden über das IJsselmeer und angrenzende Uferregionen, das klingt gar nicht übel, finde ich. „Nein, das sind Helena und ich. Helena ist meine Ex.“
„Und ich dachte schon, du wärst mit dieser Ieuwkje zusammen gewesen“, gesteht Cornelius verlegen grinsend. „Du bist wirklich kompliziert mit deinen Beziehungen, wer Tante ist und wer Freund und wer nicht. Aber ich glaub, schön allmählich blicke ich durch.“
„So schön allmählich wird das aber auch Zeit“, ulke ich. Mein Bruder ist wirklich süß, auch wenn man ihm das nicht direkt ansieht, weil er die meiste Zeit sehr bemüht ist, cool zu sein. Aber was will man erwarten, in seinem Alter.


fünfundzwanzigstes Kapitel

Cornelius hat ein dickes Buch dabei, in dem er immer mal wieder liest, und im Moment ist er gerade an einer spannenden Stelle. Ich lasse mich durch den Schein seiner Nachttischlampe und das Rascheln der Seiten nicht stören, drehe mich auf der altmodischen, aber komfortablen Klappliege zur Wand und bin bald eingeschlafen.
Am Morgen bin ich wieder recht früh wach und verkrümele mich leise ins Bad. Cornelius hat nicht nur einen anderen Schlafrhythmus als ich, er ist auch noch ziemlich hellhörig, hat er mir gestern gesagt. Um mich zu wecken, muss man sich schon anstrengen.
Gedankenverloren bleibe ich an meines Bruders Bett stehen und betrachte ihn. Sein Gesicht ist entspannt, ein paar Strähnen kringeln sich auf dem Kopfkissen. Neidlos muss ich anerkennen, dass mein Bruder ein hübscher Junge ist, und außerdem, dass Helena wirklich Recht hatte. Es war ein Fehler, die Haare abzuschneiden, zumindest aus ästhetischer Sicht.
Wenn es hingegen um den Imagewechsel geht, so war es die beste Entscheidung, die ich in den vergangenen Jahren getroffen habe. Die Umstellung war hart, aber inzwischen kann ich mir nicht mehr vorstellen, eines Tages wieder so lange Haare zu haben. Das veränderte Aussehen unterstreicht die Entwicklung, die meine Persönlichkeit durchlaufen hat und die sie noch weiter durchlaufen wird.

77

Auf halber Strecke entbrennt ein heißer Kampf.
Cornelius muss es mal wieder ein bisschen doller treiben als ich (wir scheinen uns wirklich ähnlich zu sein) und wechselt auf die Straße, weil die hier ganz entgegen der Regel besser ausgebaut ist als der Radweg. Nach dem Bau der jüngsten Ferienhäusersiedlung in Kinnum musste die Straße erneuert werden. Die schweren Baumaschinen hatten den Asphalt ruiniert.
Prompt taucht aus dem Dämmer hinter uns ein Auto mit Lichthupe auf, ich erkenne über die Schulter hinweg, dass es ein Polizeiwagen ist. Er brüllt mir zu, was das soll, und ich brülle zurück, dass wir eine Polizeistreife hinter uns haben. Aus Spaß am Brüllen macht er weiter mit dem Krach.

Erst in Tante Os Küche ist er wieder zu artikulierten Aussagen in der Lage. „Wenn ich das meinen Kumpels zuhause erzähle, die glauben mir kein Wort. Dass du ein Boot hast, okay, vielleicht ein Paddelboot. Aber nicht so ‘n tolles altes Segelschiff. Und überhaupt. Und wie du so drauf bist, und was die Leute hier so machen und so. Fällt mir ein, kanntest du die Cops?“
Ich habe den Insassen des Polizeiautos zugewinkt, deswegen kommt er jetzt darauf. „Ja. Aber denk nicht, dass ich hier alle kenne. Der Beifahrer ist der Bruder von Anno, du weißt schon, der aus der Kneipe, der mit dem Klonen“, helfe ich ihm gedanklich auf die Sprünge.
„Die glauben mir kein Wort. Ich hör’ schon, wie sie lästern.“ Cornelius zieht ein Gesicht. „Dass ich mir das alles bloß ausgedacht hätte, weil die Reise voll langweilig gewesen wäre.“
„Wenn du fertig bist mit lamentieren, können wir ja was essen, und wenn es Tante O und Ferdinand nichts ausmacht, könnten wir dann mal gucken, was es in der Glotze gibt“, sage ich und mache die Kühlschranktür auf.
„He“, macht er erstaunt, „darfst du das einfach so? Das ist doch nicht deine Küche! Ich denk, wir wohnen hier bloß in Pension!?“
Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen. „Du bist auch echt witzig, weißt du das? Soll ich dir mal erklären, wer hier wie bei wem in Pension wohnt? Das ist so“, fange ich an und schließe den Kühlschrank vorerst wieder. Ich will ja nicht, dass er ein Wärmschrank wird. „Du hast natürlich Recht, dies ist eine Pension. Deswegen sind da oben auch die Zimmer und das zweite Bad.“ Ich weise zur Zimmerdecke. „Vor ein paar Jahren hat Tante O sich ein bisschen aus dem Geschäft zurück gezogen, weil sie es nicht mehr geschafft hat. So eine Pension macht ja einen Haufen Arbeit. Aber ganz drauf verzichten kann sie auch nicht, dafür kriegt sie zuwenig Rente. Seitdem kommen also nur noch die Stammgäste oder Freunde von ihr oder von Ieuwkje. Im Moment ist aber gerade mal keiner da. Früher war ich der Freund von einer Freundin von Ieuwkje, die zur Zeit nicht hier ist, aber sonst hier wohnt. Inzwischen bin ich zu Hausfreund oder so etwas aufgestiegen. Kapiert?“
„Äh … und was hat das alles mit dem Kühlschrank zu tun?“, fragt er.
„Wie dir vielleicht aufgefallen sein könnte, kriegen wir dafür, dass wir zur Halbpension wohnen, eine ganze Menge Mahlzeiten. Das liegt daran, dass ich eine Menge Sachen tue, die ein normaler Gast nicht tun würde. Zum Beispiel habe ich die Hollywoodschaukel repariert.“
„Versteh ich nicht“, unterbricht er. „Bist du etwa nur wegen der Hollywoodschaukel gekommen? Und was arbeitest du eigentlich, wenn du so was reparieren kannst? Wie will sie dir Kilometergeld für die Fahrt geben?“

76

„Bei dem Wetter? Danke, ich war heute schon einmal nass“, lehnt Cornelius ab.
„Du kannst Ferdinands Ölzeug anziehen, er braucht es nicht, wenn er hier in der Stube sitzt“, beschließt Tante O.
„Genau, dann fahren wir nach West und ich zeig dir, warum es Springflut heißt.“
„Das gibt’s nicht in deiner Welt, dass mal einer dagegen ist, he?“, mosert er grinsend, steht aber auf und folgt mir aus dem Zimmer.

Kaum jemand ist unterwegs. So mag ich mein Dersummeroog. Wer nur im Sommer hier war, hat nichts vom Charakter der Insel begriffen.
Der Regen von heute Mittag ist weiter gezogen und nach ihm kam noch mehr Regen, aber dieser ist sanfter. Natürlich ist er nicht weniger durchdringend als sein Vorgänger, deswegen ist es gut, dass wir beide wetterfest angezogen sind.
Bei sanftem Regen gibt es oft sanften Wind, und das ist heute auch so.

„Und was willst du mir Tolles zeigen?“, fragt Cornelius ungeduldig, als wir in Westerdorp am Hafen angekommen sind.
Ich beachte seine Frage nicht. Manche Dinge kann man nicht erklären, sondern man muss sie sehen. Und wenn ich meinem Bruder erklären würde, was ihn erwartet – woher weiß ich, dass er sich vorstellt, was ich beschreibe und nicht etwas ganz anderes?
Wir fahren auf die Mole bis nach vorne unter die Lichtbake und ich sehe gleich, dass wir Glück haben mit Wetter und Gezeiten. Ich lehne mein Fahrrad an das Seezeichen und mein Bruder tut es mir nach.
„Da, guck“, fordere ich ihn auf und zeige raus aufs Wasser.
Die Springflut benimmt sich wie eine Bilderbuch-Springflut.
Die Wasseroberfläche ist dank des leichten Windes und des sanften Regens ruhig. Aber die Wellen der auflaufenden Flut! Die überrennen sich fast. Es sieht aus, als ob sich eine Horde kleiner Seeungeheuer um den ersten Platz auf der Insel balgt.
„Aha. Und was ist das Besondere daran?“
„Siehst du das denn nicht?“, wundere ich mich.
„Also, ich sehe Regen und Wind … im Vergleich zu heute Mittag wenig von beidem, und ich sehe links den Hafen und rechts das Wattenmeer. Was ist das Besondere, davon abgesehen, dass ich hier noch nie war?“
„Aber die Wellen! Sie machen alle kleine Buckel und hüpfen durcheinander!“
„Da ich keine Ahnung habe, wie es sonst aussieht, ist das nichts ungewöhnliches für mich“, gibt er zu bedenken.
Tja, da hat er Recht. „Dieses Phänomen gibt es nur bei Springflut“, versuche ich das Naturwunder zu erklären. „Das unterscheidet die Springflut von den anderen Hochwassertiden und deswegen heißt sie halt auch so. Weil sie springen.“
Cornelius hat mich belustigt betrachtet. „Du bist echt witzig, wenn du dich so aufregst.“
„Ich sehe schon, ich kann dich nicht begeistern. Fahren wir also zurück?“
„Wer zuerst da ist, hat gewonnen!“, ruft er und rennt zum Fahrrad.

75

vierundzwanzigstes Kapitel

Als wir endlich in der Pension „Kijkdoos“ sind, heiß geduscht und was Trockenes angezogen haben, gesteht Cornelius: „Ich bin jedenfalls froh, dass du bei so ‘nem Wetter nicht losfahren würdest. Ich hätte viel zu viel Angst, als dass ich an andere Dinge denken könnte als das schwankende Wasser unter mir und so Sachen.“
„Du musst keine Angst haben. Wer vor der See Angst hat, sollte an Land bleiben, das ist eine ganz einfache Regel“, erkläre ich vorsichtig. „Respekt musst du haben, und wissen, dass die See in jedem Fall stärker ist als du. Und wenn du vor der Kotzerei bei der Überfahrt Angst hast, besorge ich dir ein stärkeres Beruhigungsmittel.“ Aber das hatte ich sowieso vor. Wundermedizin heilt vieles, selbst bei Erwachsenen – nur Seekrankheit nicht. Das Kleinhirn lässt sich nicht belügen.
„Die Natives sagen, dass man sich nur–“
Wer sagt das?“
„Die Natives. Indianer. Sie sagen, dass man sich nur vor unbekannten Geistern fürchten muss, die anderen kann man beschwören oder sich anderweitig vom Leib halten.“ Nach kurzem Nachdenken fügt er hinzu: „Irgendwie klappt das bei mir nicht. Ich kenne die Überfahrt ja jetzt, und trotzdem ab ich Angst.“
„Aber es klingt vernünftig“, sage ich. „Hast du Kontakt zu Indianern?“
„Nein, aber Ma hat ein paar Freunde gehabt.“
Natürlich, Ma – wer sonst?! Langsam frage ich mich wirklich, was seine tolle Ma nicht irgendwann schon mal gesagt, getan oder gewusst hat. Cornelius schafft es, egal wobei, früher oder später das Thema auf sie zu bringen. Mir geht das mittlerweile ziemlich auf die Nerven. Ist er so ein Muttersöhnchen, dass er dauernd von ihr reden muss, oder hat er in seinem ‚kurzen’ Leben noch keine anderen Helden erlebt? Um hauptsächlich mich selber abzulenken, sage ich: „Bei auflaufendem Wasser können wir nach Westerdorp an den Hafen fahren. Vielleicht kannst du von der Mole aus sehen, warum es Springflut heißt.“

Später kommt Ferdinand vorbei. Er richtet sich offenbar auf einen längeren Aufenthalt ein, denn er hat in einer Ledertasche sein kunstvoll gearbeitetes Schachspiel mitgebracht und lädt uns ein, gegen ihn zu spielen.
Ich gebe seiner Aufforderung und meinem Leichtsinn nach und habe prompt verloren. Nach seinem zweiten, ebenso eindrucksvollen Sieg gegen mich wird Ferdinand übermütig und reizt Cornelius, auch sein Glück zu versuchen. Mein Bruder gibt vor, keine Lust zu haben. Die ganze Zeit, während ich mich über Ferdinands Spielzüge gewundert habe und schließlich an ihnen verzweifelt bin, hat er relativ unbeteiligt neben uns am Tisch gesessen. Ich nehme an, dass er einfach zugeguckt hat, weil er genauso viel Ahnung von Schach hat wie ich. Nämlich wenig.
Aber es zeigt sich, dass er Ferdinands Taktik studiert hat. Nun stellt er nach allen Regeln der Kunst Fallen, lockt und narrt Tante Os alten Freund und sammelt beinahe in jedem Spielzug eine der gegnerischen Figuren von der Spielfläche, ohne selbst nennenswerte Verluste zu machen. Es dauert etwa ebenso lang wie bei mir, bis dieses Mal Ferdinand erst „Schach“ und kurz darauf „Matt“ zu hören bekommt.
„Das war nicht nett von dir, Junge“, beklagt er sich, und betrachtet die Figuren auf dem blau gewürfelten Tischtuch, als könne er nicht begreifen, eine derartige Niederlage hinnehmen zu müssen; noch dazu auf dem eigenen Schachbrett.
Cornelius lächelt freundlich. „Entschuldigung. Aber Sie wollten ja gegen mich spielen.“ Sein Lächeln wird eine Spur breiter, als er sagt: „Außerdem musste ich meinen Bruder rächen. Was Sie mit dem gemacht haben, war auch nicht nett.“
„So, Brüder seit ihr“, stellt Ferdinand fest, und mustert uns grimmig.
„Das hab ich dir doch gesagt“, rügt Tante O. „Nie hörst du mir zu, wenn ich mit dir rede.“
„Hast du gar nicht“, erwidert Ferdinand bockig, „Überhaupt nichts hast du zu mir gesagt!“
„Doch, habe ich. Und jetzt gib Ruh’, sonst kannst du zuhause weiter meckern.“
„Harte Sitten“, amüsiere ich mich. „Ich glaub, stattdessen suchen wir mal das Weite. Hast du Lust mit zum Meer zu fahren?“

74

„Sie hatten zu der Zeit Streit miteinander. Der erste Grund für diesen Streit sitzt neben dir, der zweite war, dass er Lucy kurz vor der Geburt geheiratet hat. Popp war dagegen. Deswegen hat Gerrit extra betont, dass er den älteren Willem meint.“
„Das hat bestimmt nicht dazu geführt, dass sie sich schneller wieder versöhnt haben.“
„Eher nicht.“

Meine Gedanken schweifen ab zu Popp.
Vor fast zweieinhalb Jahren ist er gestorben. Er hatte schon länger Herzprobleme gehabt und sein Arzt hatte ihm verboten, alleine zu segeln. Aber er hat es natürlich doch gemacht. Und dabei ist es dann eben passiert. Für ihn ist es sicher schön gewesen, auf dem Wasser zu sterben, aber für uns andere war es ein Schock. Vielleicht würde er noch leben, wenn rechtzeitig Hilfe da gewesen wäre.
Mommi und ich haben lange überlegt, ob wir die Kaap Hoorn verkaufen sollten. Zu viele Erinnerungen waren mit dem Schiff verknüpft. Aber schließlich haben wir es nicht getan, weil es nicht in Popps Sinn gewesen wäre. Er wollte ja, dass ich die Kaap Hoorn bekomme und sie eines Tages weitervererbe.

Cornelius ist auch in Gedanken gewesen, denn irgendwann sagt er: „Ma würde sich freuen, wenn sie uns jetzt so sehen könnte.“
„Vermisst du sie sehr?“
Er nickt.
Ich ziehe meinen Bruder (der im Moment nicht wie der coole 21-Jährige wirkt, dessen liebste Beschäftigung es zu sein scheint, mir die Glatze zu tätscheln) näher zu mir.
„Manchmal träume ich von ihr. Sie ist dann nicht wieder lebendig, sondern wir treffen uns im Himmel. Da ist es schön. Hell und warm und freundlich, es gibt keinen Streit, alle mögen sich und eine Band macht Musik, aber nicht so laut, dass es beim Reden stört. Pa hat gesagt, ich soll das nicht zu laut rum erzählen, sonst lande ich womöglich im Irrenhaus.“
Ich streichele ihm übers Haar. „So schlimm ist es nicht.“
Er tut mir Leid, denn es ist ein schwerer Schlag, jemanden Liebes zu verlieren, wenn man nicht damit rechnet oder nicht damit rechnen will. Wer rechnet schon mit dem Tod? Mommi hat mir damals erzählt, dass sie gestorben ist. Ich war ungefähr 22 oder 23 und es ist mir ziemlich gleichgültig gewesen. Jeden Tag sterben ziemlich viele Menschen auf der Welt, man kann nicht für jeden in Tränen ausbrechen.
Jetzt wünsche ich mir, Lucy besser gekannt zu haben, dass ich auch so um sie trauern könnte, wie mein Bruder es tut. Zugleich erhebt sich allerdings der alte Hass gegen sie. Warum hat sie mich damals sitzen gelassen? Wenn sie zu Cornelius so liebevoll gewesen ist, warum konnte sie das dann nicht mit mir genauso tun? Warum hat sie mich nicht geliebt, aber ihn? Warum hat sie sich nicht um mich gekümmert, war ich denn weniger ihr Kind als er? Wie in aller Welt konnte sie mir das antun?!? Bevor er kam, war es leichter für mich. Da war ich noch das einzige Kind dieser Frau.

„Lass uns nach Hause fahren“, sage ich irgendwann. Mit bitteren Fragen und Vorwürfen gegen eine Tote wird meine Kindheit nicht einfacher zu ertragen. Außerdem ist sie vorbei.

73

dreiundzwanzigstes Kapitel

Auf der Insel gibt es ein sonderbares Wetterphänomen. Manche Tage beginnen so nebelig, dass man kaum über die Straße gucken kann. Um zehn hebt sich der Nebel und um elf scheint die Sonne strahlend vom Himmel. Oder es schüttet morgens wie aus Kübeln und schon kurz nach elf kann man sich beruhigt ohne Regenzeug vor die Tür wagen. Ich habe das oft beobachtet und verschiedene meines Erachtens kompetente Leute dazu befragt, aber keiner konnte mir erklären, wie diese Wettergrenze zustande kommt und warum sie stets um elf über die Insel rauscht.
Natürlich gibt es das meteorologische Mysterium auch in umgekehrter Reihenfolge. Bei der Fortsetzung unserer gestrigen Tour beobachten wir, wie es kurz vor Mittag immer mehr zuzieht.
„Sagtest du nicht, dass es schön bleiben würde?“, deutet Cornelius an, als wir unter einem auf Stelzen stehenden Holzgebäude Schutz vor einem plötzlichen Regenschauer suchen. Im Sommer ist hier drin ein dicht belagertes Strandcafé gewesen; jetzt hat es leider zu.
„Ja, hab ich. Aber ich hatte mir das nicht ausgedacht. Wenn du dich beschweren willst, meld’ dich beim Wetterdienst“, rechtfertige ich mich.
„Und was machen wir, wenn es so bleibt?“
„Nass werden.“
„Nein, ich meine … du kannst doch bei so einem Wetter nicht segeln! Guck dir doch mal das Meer an!“ Er weist hinaus auf den Strand, wo sich die Wellen brechen.
„Es hat ja auch niemand gesagt, dass ich jetzt segeln werde. Wenn der Schauer vorbei gezogen ist, klart es wieder auf, du wirst schon sehen.“
„Und wenn es nicht aufklart?“
„Du meinst, wenn es ab jetzt immer schlechter wird, wovon man nicht ausgehen kann, weil das gegen alle Natur wäre und auch gegen alle Erfahrung, denn bei so schlechter Prognose wäre ich ja nie losgesegelt?“
Er nickt.
„Dann fahren wir mit der Fähre heim.“
„Und wenn die auch nicht mehr fährt?“
Lachend frage ich: „Du willst es ganz genau wissen, he? Wenn tatsächlich alle Wetter in diesem Herbst aufeinander treffen und die Fähre auch nicht mehr fährt, was also ab neun oder zehn Beaufort der Fall sein dürfte, dann bleiben wir auf der Insel, bis es besser wird. Denn das kannst du mir glauben, bei dem Wetter wird es nicht angenehmer auf See zu sein. Deine Übelkeit von der Hinfahrt war nämlich nicht besonders schlimm. Normalerweise kann ich Seekrankheit nicht so einfach wegreden, ich bin ja kein Zauberer“, gebe ich ein Stück der Wahrheit über meine Wundertabletten preis.
„Danke, mach mir Mut“, brummt Cornelius. Dann fällt ihm ein: „Was wird eigentlich deine Chefin sagen, wenn du nicht pünktlich zur Arbeit kommst? Es kann ja mal passieren, dass du nur das Wochenende frei hast, und nicht mehrere Tage … was macht sie dann?“
„Na ja, was soll sie machen?“, frage ich. „Bis jetzt ist so was noch nicht vorgekommen, aber sie würde nie sagen, dass ich trotzdem kommen muss. Sie weiß, dass das auch ganz schön in die Hose gehen kann.“ Bei dieser Formulierung überlege ich spontan, in welche Hose es gehen soll. Vermutlich bleibt nur eine, das ist die Windhose. Ich verschone meinen Bruder jedoch mit diesem Wortspiel.

„Was meinst du damit?“, will er wissen und wendet den Blick vom mittlerweile bleigrauen Meer ab.
„Genauso wie im Straßenverkehr können auf See auch Unfälle passieren.“
„Ist dir schon mal so ein Unfall passiert?“
„Nur kleinere Pannen. SOS funken musste ich noch nie. Mommi hätte mich sicher nie wieder segeln gehen lassen aus Angst, mich genauso zu verlieren wie sie Popp verloren hat.“
„Wer ist denn Popp?“
„Mein Opa. Er ist beim Segeln gestorben.“
„Ach“, macht er, als würde ihm etwas klar. „Das ist bestimmt der Willem van Hoorn, wegen dem du auch Willem heißt?“
Gibt es Dinge, die er nicht über mich weiß? „Nein, Gerrit hat mich nach seinem Opa benannt, der hieß auch Willem. Ich kenne ihn nicht, weil er gestorben ist, als ich ungefähr zwei war, aber das macht nichts, weil Popp ja genauso hieß.“
„Dann ist es aber komisch, dass dein Vater so einen Unterschied darum gemacht hat.“

72

Weil mir spontan so danach ist (ich bin ja meist ein eher impulsiver Mensch, der nicht viel Zeit mit Nachdenken zubringt, wenn es darum geht, etwas zu tun (40)) nehme ich Cornelius herzlich in den Arm – das heißt, ich habe das vor, aber die Windfangwand des Frittenbüdchens kommt mir dazwischen. Und mein linker Ellbogen. Um nicht zu schreien, beiße ich mir auf die Lippe.
„Was hast du denn?“, erkundigt Cornelius sich besorgt. „Oh nein! Nicht beißen! Jeremy, hörst du? Mach die Zähne los! Luft holen!“
Irgendwann lässt der stechende Schmerz nach. „Wie soll ich die Zähne los machen?“, lenke ich mich ab und wische mir über die Augen.
Cornelius wirkt noch ganz erschrocken. „Was ist passiert? Warum hast du dich gebissen?“
„Hab mich gestoßen an dieser blöden Ecke“, ich weise hinter mich.
„Aber warum tut das so schrecklich weh, dass du dich selber beißt?“
Ich schiebe den Pulloverärmel hoch, sodass ein paar nicht allzu schön anzusehende Narben sichtbar werden. „Vor ein paar Jahren hatte ich den gebrochen. Es war ein komplizierter Trümmerbruch und zwei Operationen waren nötig, um alles wieder zu richten. Inzwischen geht’s wieder, außer ich stoße mich. Beschwerden hab ich allerdings den ganzen Tag schon, das macht der Knochen aber nur, wenn ein Tiefdruckgebiet im Anmarsch ist. Keine Ahnung, was da heute los ist.“
„Schließlich hieß es in der Wettervorhersage, dass es schön bleibt“, stellt er fest.
Sollte es Wettervorhersage heißen, weil es eine Sage ist? Mich interessiert etwas anderes mehr: „Woher kannst du das?“
„Woher kann ich was?“
„Solche Anweisungen geben wie ein … Rettungssanitäter. Zähne losmachen, Luft holen. Und so.“
„Ich wollte früher mal Feuerwehrmann werden, deswegen habe ich an sehr vielen Erste-Hilfe-Kursen teilgenommen. Teils fanden sie an meiner Schule statt, teils aber auch im Krankenhaus oder natürlich bei der Feuerwehr. Die Anweisungen gehörten dazu. Das Opfer hat schon genug Probleme, es kommt von alleine nicht drauf, was ihm am dringendsten fehlt. Atemluft zum Beispiel.“
„Krasse Sache.“
„Der Idealfall ist allerdings, dass das Opfer auch macht, was man ihm sagt.“
„Gib mir noch ne Chance. Sag es mir beim nächsten Mal wieder, dann hol ich Luft.“

Als wir weiter fahren, hat Cornelius seinen Humor wiedergefunden. „Eigentlich müsste der Ellbogen bei dir Ellecke oder Ellspitze heißen. Von ‘nem Bogen seh ich nicht viel. Und überhaupt sind die meisten Wörter bei dir falsch. Bauch zum Beispiel klingt ziemlich dick, aber was ist bei dir dick? Der würde besser Dünnch heißen“, scherzt er.
Dafür, dass mein Bruder laut eigener Aussage nicht verrückt ist, denkt er über lustige Dinge nach. Es ist wirklich schön, dass er hier ist. Und sein seltsames Niederländisch kommt mir mittlerweile gar nicht mehr so seltsam vor.
Er scheint einer dieser Sprachbegabten zu sein, die sich eine Sprache nur anhören müssen, um sie korrekt aussprechen zu können. Ich finde das ziemlich beneidenswert, denn bei mir geht das nicht so einfach. Wie Cornelius gestern Abend treffend bemerkt hat, hört man es meinem Englisch an, dass ich kein Kanadier bin. Im Deutschen ist es genauso. (41)

71

„Siehste. Und wenn nicht so schönes Wetter angesagt wäre, wäre ich nicht hergekommen, weil ich dann nicht wüsste, wann ich wieder zurück nach Hause kommen könnte“, gehe ich darauf ein.
„Wieso denn das? Dir kann doch schnurz sein, ob irgendwo Wiesen oder Straßen unter Wasser stehen. Dann kannst du mit deinem Schiff sogar auf der Straße fahren, ist doch cool.“
„Du vergisst den Wind. Die Kaap Hoorn ist nicht beliebig seetüchtig. Ab sechs Beaufort bleibe ich im Hafen, anstatt auszulaufen, egal, wo dieser Hafen gerade ist.“
„Aha. Und was sind Beaufort? Ist das Windgeschwindigkeit? Wie viel ist das in Meilen?“
Ich schnaube laut. Was dieser Typ alles von mir wissen will! Ich bin doch kein Lexikon!! „Sechs Beaufort sind ungefähr zehn bis zwölf Meter pro Sekunde, den Rest kannst du dir alleine ausrechnen.“ Außerdem, wer rechnet noch in Meilen, sind wir im Mittelalter? Ich kenne höchstens Seemeilen, aber davon wird Cornelius noch nie etwas gehört haben, schätze ich.


zweiundzwanzigstes Kapitel

Den Nachmittag verbringen wir damit, kreuz und quer über die Insel zu fahren. Mein Bruder verbringt ihn außerdem damit, mir zu allen möglichen Themen Löcher in den Bauch zu fragen. Während einer der Imbiss- (und Rauch-)pausen frage ich ihn, warum er das tut.
Cornelius fragt zurück, warum ich das wissen will.
„Ich will es wissen, weil ich nicht weiß, ob du immer so viele Fragen stellst, oder ob du es nur tust, wenn du an einem Ort bist, wo du vorher nie warst, und außerdem, warum du fragst, nämlich ob du einfach was zu reden haben willst, oder ob es dich wirklich interessiert. Manchmal bin ich nämlich mit der einen Antwort noch nicht fertig und du kommst schon mit der nächsten Frage an. Das stört mich“, schließe ich meine umfangreiche Ausführung ab und stecke eine weitere Portion Fritten und Shrimps mit Apfelmus in den Mund. Mein Bruder hat das selbe Essen, bis auf das Apfelmus. Das war ihm zu suspekt, dabei ist es nicht suspekt, sondern lecker. Er hat lieber Ketschup genommen und reichlich Mayo.
Trotzigen Tonfalls und ohne mich anzusehen kontert er: „Wenn du keinen Bock drauf hast, warum antwortest du dann immer? Ich dachte, weil du so viel weißt, kann ich dich nach allem fragen.“
„Ich habe nicht gesagt, dass deine Fragen nerven“, sage ich ruhig. „Und so besonders viel weiß ich eigentlich auch gar nicht. Es ist nur meine ganz normale Umgebung, mein Alltag. Hätte ich dich besucht, hätte ich vielleicht genauso viele Fragen zu allem.“
„Aber du weißt auf alles eine Antwort, was ich frage. Und du erklärst auch alles so, dass ich es kapiere und mir trotzdem nicht blöd vorkomme. Zum Beispiel das heute früh am Strand, mit den Zeichnungen und so, das war echt klasse. Meine Freunde sind ganz anders. Wenn wir was zusammen machen, kommt es irgendwie nie dazu, dass ich so was fragen könnte. Und ich wüsste auch gar nicht, wen ich was fragen könnte. Ich find es toll, so einen schlauen Bruder zu haben.“
„Ich find es auch toll, dich als Bruder zu haben. Und ich find es schön, dass du hier bist“, sage ich ehrlich.
Cornelius lächelt, und es gelingt wieder so strahlend wie gestern vor meiner Haustür. Ach du liebe Güte, denke ich, das wäre mir jetzt wie viel länger vorgekommen.
„Weißt du, ich hatte Schiss“, vertraut er mir an. „Ich hab im Flieger gesessen und mir die ganze Zeit überlegt, was ich wohl mache, wenn du gar nichts von mir wissen willst. Weil dein Pa zwar immer von dir geschrieben hat, aber du hast nie Grüße bestellt oder selber was geschrieben oder so.“ Er hält kurz inne und sagt dann: „Danke übrigens wegen gestern. Fand ich toll, wie du mich vor dem Marc in Schutz genommen hast.“
Ich winke ab. „Du hättest das bestimmt für mich genauso gemacht.“
„Das ist richtig, aber ich wusste nicht, ob du es auch machen würdest.“

70

Mein Bruder guckt mir zweifelnd zu. „Hast du keine Badehose mitgenommen?“, fragt er, was eigentlich deutlich zu erkennen ist: Nein, ich habe keine dabei. „Brauch ich eine?“, gebe ich die Frage zurück.
„Ist das hier denn ein FKK-Strand?“
Ich rolle mit den Augen. „Es ist Ende Oktober! Den Leuten ist völlig pups-egal, ob einer im Pelzmantel schwimmen geht oder sonst was treibt.“ Mir wird langsam ein bisschen kalt zum Herumstehen, ich rufe: „Wer zuerst im Wasser ist, hat gewonnen!“ und renne los.
Cornelius überholt mich, schreit mir „Komm schon, du Rennauto!“ über die Schulter zu und stürzt sich in die Fluten. Dort schreit er weiter und sieht zu, dass er wieder zurück auf den Strand kommt. „Das Scheiß-Meer ist ja super-sau-arsch-kalt!!“, brüllt er.
Aber dieses Mal habe ich die Trümpfe in der Hand, und ich behalte sie auch – immerhin weiß ich ungefähr, wie warm oder kalt die Nordsee im Herbst ist. Wärmer als im Februar auf alle Fälle.

Bei der diebstahlsicheren Tasche wartet mein Bruder mit verkniffener Miene. „Hättest du mir nicht vorher sagen können, dass dieses blöde Meer eiskalt ist?“, grummelt er.
„Hättest du mir nicht vorher sagen können, dass solche angenehmen Temperaturen bei dir schon eiskalt sind? Wir können ja ins Wellenbad fahren, dann kannst du mir zeigen, wie toll du schwimmen kannst“, stichele ich, während ich ihm sein großes Handtuch abluchse und mich abtrockne, bevor der Wind es tut. Der ist nämlich nah dran an „super-sau-arsch-kalt“.
„Bähbähbäh“, macht er. „Übrigens wolltest du mir erzählen, wie das mit der Ebbe geht“, fällt ihm ein, um mich auf andere Gedanken zu bringen.
Amüsiert lasse ich das Manöver geschehen. „Stimmt.“ Ich ziehe mich an und renne ein paar Runden auf dem Strand herum, damit ich gleich nicht so furchtbar schnattere. Dann hocken wir uns in der Nähe der Waterkant auf den feuchten Sand, der jetzt meine Tafel ist. Mit dem Zeigefinger male ich zwei ungleich große Kringel hinein und sage: „Pass auf, das geht so. Das kleine ist der Mond und das ist die Erde. Der Mond dreht sich um die Erde.“
Das „Ach nee?“ von nebenan überhöre ich und erkläre, dass der Mond durch seinen Magnetismus das Wasser anzieht und dadurch die Gezeiten entstehen.
„Moment mal“, unterbricht Cornelius mich, „Denk nicht, dass ich noch nie was von Gezeiten gehört hätte. An den Hopewell Rocks ist der größte Gezeitenunterschied der Welt, und rat mal, wo die Hopewell Rocks sind?“
Das ist ja mal eine wirklich einfache Preisfrage! „Ich rate, dass sie in Kanada sind“, sage ich. Der meines Wissens höchste Tidenhub Europas ergibt sich in einer Bucht in der Normandie, schon allein deswegen können die Rocks dort nicht sein: Kein Franzose auf der ganzen Welt würde seinen Orten englische Namen geben.
Mein Bruder nickt zufrieden. „Jetzt darfst du weiter erklären.“
Das tue ich. Die Gezeiten – auch Tiden genannt – wechseln aufgrund der Erdrotation alle sechs Stunden. Zweimal am Tag ist also ein Punkt auf der Erde und sein gegenüberliegender Punkt auf der Rückseite der Erde in einer Achse mit dem Mond. Dann wird es schwieriger, als mit den Mondvierteln die Spring- und Nipptiden hinzu kommen. Ich brauche insgesamt ungefähr hundert Zeichnungen und eine Menge Geduld, bis ich das Phänomen veranschaulicht habe. Es ist komplizierter, als ich gedacht habe. Vor allem ist es komplizierter, weil völlig logische Vorgänge offenbar doch nicht so klar verständlich sind, wie ich bis dahin angenommen habe. Weil ich gerade beim Thema Vollmond bin, weise ich darauf hin, dass morgen eine Springflut bevorsteht, und dass dieses Phänomen in Verbindung mit einem kräftigen Sturm eine Sturmflut ergeben kann.
Hier meldet sich mein zuletzt sehr aufmerksam lauschender Bruder wieder zu Wort: „Von Sturmflut hat Ma erzählt. Da war mal eine, vor 40 Jahren oder so, da stand das halbe Land unter Wasser, hat sie gesagt.“

69

Zu diesem Schluss bin ich ebenfalls gekommen. Nur hat sie noch nicht gesagt, wie sie ihn findet. Ich bohre also etwas nach.
„Ach, du“, wehrt sie ab, „wie soll ich wissen, wie ich ihn finde, wenn ich ihn noch gar nicht kenne? Das war nur ein erster Eindruck. Meine Meinung von dir hat sich auch verändert, seit du das erste Mal hier warst. Also was soll die Frage.“
„Und wie fandest du mich, als ich das erste Mal hier war?“, erkundige ich mich.
Tante O weicht aus: „Möchtest du eine nette oder lieber eine ehrliche Antwort?“
„Die ehrliche. Schließlich hat sich deine Meinung ja geändert; vermutlich zum Besseren.“
Sie ziert sich immer noch, rückt aber irgendwann mit der Wahrheit raus: „Langweilig.“
Ihr Bekenntnis überrascht mich nicht. Das denken viele Leute von mir, ich bin halt nicht so eine Stimmungskanone.
„Aber es hat sich ja dann bald geändert“, winkt sie ab.
Just in diesem Augenblick kommt Cornelius auf die Terrasse. Er hat eine Sporttasche dabei und kaut noch an seinem Marmeladenbrot. „Eh, altes Rennauto, können wir?“, ruft er, zieht das Fahrrad aus dem Ständer und ist schon auf der Straße.

Bis zum Parkplatz am Strand habe ich ihn längst eingeholt, unter anderem liegt das daran, dass ich eine Abkürzung durch die Dünen genommen habe; er musste sich jedoch aufgrund mangelnder Ortskenntnis an den Weg von gestern Abend halten.
Als wir ans Wasser gehen, fragt er: „Sag mal, dieser Kuchen da bei der Tante O in der Küche – hat der eine besondere Bedeutung?“
„Das kommt ganz drauf an, wie du besondere Bedeutung definierst“, gebe ich zurück.
„Also, wenn man mal davon ausgeht, dass ein normaler Kuchen keine Kerzen hat und der hatte neun Stück, könnte man definieren, dass jemand heute Geburtstag hat und neun Jahre alt geworden ist. Aber wer soll das sein?“
„Es waren nicht neun, sondern zwei und sieben. Und ich bin mit sofortiger Wirkung siebenundzwanzig.“
„Mist!“, ruft er und schlägt sich an die Stirn, „ich wusste, dass ich irgendwas vergessen hatte! Zuhause hab ich noch dran gedacht. Sorry. Aber trotzdem herzlichen Glückwunsch und alles Gute.“
„Danke“, mache ich.

In seiner Tasche befinden sich eine Schwimmbrille, ein Paar Plastiksandalen, eine trockene Shorts und zwei verschieden große Badehandtücher, außerdem eine Vorrichtung mit großem Haken und kleiner Dose, deren Zweck ich nicht verstehe. Cornelius dreht den Haken, der aussieht wie ein überdimensionaler Korkenzieher, durch ein Loch im Boden der Tasche in den Sand und befestigt die kleine Dose zwischen Haken und Tasche.
„Was ist das?“, will ich wissen.
„Eine Diebstahlsicherung, was denkst denn du. Sobald einer die Tasche mehr als drei Zentimeter hoch reißt, geht in dieser Kapsel eine Alarmsirene los. Und nur ich weiß den Code, wie sie wieder abzuschalten ist. Ich will doch nicht gleich ohne meine Klamotten dastehen“, erklärt er.
Ideen haben diese Kanadier, so was habe ich ja noch nie gehört. Trotzdem frage ich: „Mal ehrlich, was glaubst du, wie viele von den paar Leutchen hier so scharf auf eine herumstehende Sporttasche sein werden, dass sie ausgerechnet deine mitnehmen? Wir sind hier nicht in Kanada, sondern auf Dersummeroog. Die meisten Leute, die jetzt noch auf der Insel sind, wohnen hier. Die haben alle ihre eigenen Sporttaschen.“
Cornelius zeigt sich unbeeindruckt. „Ich schließe die Tasche trotzdem ab.“ Dabei zieht er Schwimmbrille und Plastiksandalen an. Was will er bloß mit dem ganzen Kram?
„Tu das. Ich lege meine Sachen hier hin.“ Aus der Jackentasche hole ich eine knitterige Plastiktüte, fülle sie mit meinen Kleidungsstücken und deponiere sie in einer eigens dafür geschaffenen Sandkuhle. Die Schuhe stelle ich oben drauf, damit nichts wegfliegt.

68

„Zu meinen Verständnis: Lucy und Gerrit sind deine Eltern?“, unterbricht sie mich.
„Ja, die leiblichen. Bei mir ist alles ein bisschen komplizierter mit leiblichen und tatsächlichen Eltern.“
„So hört sich das an.“ Sie schaut eine Weile versonnen in ihren Tee, dann fragt sie: „Wie lange wird er bleiben?“
„Das weiß ich nicht. Wir haben noch nicht drüber geredet. Ich weiß nicht mal, ob er hier leben will oder ob er nur als Urlauber hier ist. Sein Vater hat mir aber ausrichten lassen, ich sei willkommen.“

Gemessen an der Jahreszeit ist es warm, die Sonne scheint und hier zwischen den Häusern bewegt sich kein Lüftchen. Um den Rest des Tages Zeit für Cornelius zu haben, repariere ich die Hollywoodschaukel gleich nach dem Frühstück. Heute ist zwar Sonntag, aber ich definiere die Reparatur nicht als „Arbeit“, sondern als „Zeitvertreib“ (schließlich ist Cornelius noch nicht aufgestanden), außerdem bin ich ja das Geburtstagskind, und das darf alles.
Als ich zusammen mit Tante O, die mit dem Ergebnis meines Zeitvertreibs sehr zufriedenen ist, das erste Probesitzen unter dem neuen Dach mache, werden wir unerwartet heftig angeschoben. „Es quietscht grauenhaft“, bemängelt mein Bruder. „Wäre ich nicht schon wach gewesen, wäre ich davon bestimmt aufgewacht.“
„Guten Morgen“, sagt Tante O und erkundigt sich schlitzohrig: „Konntest du nach dem schönen Gesang nicht wieder einschlafen?“
„Schöner Gesang?“ Er tut ahnungslos. „Hab keinen gehört. Oder meinen Sie das komische Gejaule, als hätte einer einem Hund auf alle vier Pfoten zugleich getrampelt?“
Ich sehe es an der Zeit, von etwas anderem zu reden. „Willst du erst was essen, oder direkt zum Strand?“
„Hm“, macht er, und Tante O bietet ihm den Platz an ihrer Seite an: „Setz dich, im Sitzen denkt es sich leichter.“
Cornelius plumpst auf den blumigen Kissenbezug, und sagt: „Hoffentlich fang ich bei der Schaukelei nicht wieder an zu reihern.“
„Macht nichts, wenn, du hast ja noch nichts gegessen“, kommentiere ich. „Hier bist du mir jedenfalls nicht ähnlich. Hätte mich einer gefragt, Essen oder Strand, hätte ich Essen gesagt, und zwar ganz viel. Und dann Strand, und davon auch ganz viel.“
Cornelius wiederholt sein „Hm“, dann meint er, dass meine Reihenfolge nicht verkehrt sei und geht ins Haus zurück. Das Frühstück haben wir auf dem Küchentisch stehen gelassen.
„Äußerlich ist er dir aber sehr ähnlich“, sagt Tante O. „Ich bin gestern ja auch fast drauf reingefallen. Schade, dass Ieuwkje nicht hier ist.“
„Das wäre bestimmt lustig geworden. Und, wie findest du ihn?“, erkundige ich mich.
„Er ist ganz anders als du. Du bist ein ziemlich höflicher Mensch und schreist nicht so leicht rum. Sowas wie heute früh hättest du nie gemacht. Er hat mehr Kanten als du“, überlegt sie laut, und fragt dann: „Christ ist er nicht, oder?“
„Ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, ihn darauf anzusprechen“, entschließe ich mich zu einem außerordentlich wohlformulierten Satz.
Es würde mich aber freuen, wenn er es wäre, weil das mein Zusammenleben mit ihm bestimmt einfacher machen würde. Ich müsste nicht permanent Angst um seine Seele haben und ihn mit seiner Rolle in der Ewigkeit nerven, und wir hätten schon einen Grund weniger, in Streit zu geraten. Mit Helena habe ich darüber oft gesprochen, und jeder meiner Überzeugungsversuche hat im Streit geendet. Sie hat mir Blauäugigkeit vorgeworfen (wieso, ich habe doch graue Augen) und dass ich mich von irgendwelchen Rattenfängern habe bequatschen lassen, die es nur auf mein Geld abgesehen hätten, und so weiter und so fort. Hätte sie mich geschlagen, hätte es mir kaum mehr weh getan.
„Das mit den Kanten kann man nicht so sagen“, holt Tante O mich aus der Grübelei über Helenas Ansichten zu meinem Weltbild zurück in ihre Hollywoodschaukel. „Er hat nicht mehr Kanten als du, sondern andere. Seine Kanten sind offensichtlicher als deine, man stößt sich schneller an ihnen. Impulsiv scheint er zu sein, und nicht so schüchtern wie du.“

67

Doch ich habe wohl eine Kleinigkeit vergessen seit gestern Abend: Ich habe nicht alleine auf der Etage geschlafen. Als ich zurück ins Zimmer komme, um mich anzuziehen, trifft mich ein Kissen im Gesicht und jemand brüllt, zwar in sehr fremdartigem Englisch, aber unmissverständlich, dass ich gewisse Dinge mit meinem Knie anstellen soll, aber gefälligst leise, sonst habe ich das letzte Mal gesungen.
Ähäm! Der ist aber gar nicht mehr so heiter drauf wie gestern Abend! Ich raffe meine Sachen zusammen und verlasse wesentlich leiser das Zimmer, um mich im Bad anzuziehen.
Tante O ist schon in der Küche. Kaum dass ich die Tür geöffnet habe, singt sie mir ‚Hoch soll er leben’ und gibt mir ein hübsch eingepacktes Päckchen. Außerdem warten auf dem prachtvoll gedeckten Frühstückstisch ein Blumenstrauß und ein Schokoladenkuchen mit neun Kerzen auf mich.
„Oh“, mache ich perplex, „das ist aber eine Überraschung!“
„Das sollte auch eine werden“, lacht sie. „Zum Glück hast du dir etwas Zeit gelassen im Bad, sonst wärst du mitten in meine Vorbereitungen geplatzt.“
„Woher weißt du, dass ich heute Geburtstag habe?“, will ich wissen und lasse mich am Tisch nieder. Ich packe das Geschenk aus und halte ein Buch in den Händen, das „Geschichte und Geschichten von Dersummeroog“ heißt.
„Als du das erste Mal gekommen bist, habe ich dich ein Formular ausfüllen lassen. So mache ich es bei allen meinen Gästen. Zu Anfang will man ja wissen, mit wem man es zu tun hat. Wenn es angenehme Gäste sind, merke ich mir nur das Geburtsdatum und der Rest von der Liste verstaubt im Ordner. Ich möchte doch, dass sich meine Gäste wohlfühlen, und solche kleinen Aufmerksamkeiten gehören für mich dazu.“
„Vielen Dank jedenfalls. Damit habe ich echt nicht gerechnet.“
Auf dem Kuchen sind mit Zuckerguss die Zahlen 2 und 7 aufgemalt und in die Zwei sind zwei Kerzen eingepiekt, in die Sieben natürlich sieben Stück. Das ist eine geschickte Art, mit wenigen Kerzen eine große Jahreszahl aufzustellen. Ich schaffe es, alle auf einmal auszupusten (bei siebenundzwanzig Stück wäre das schwieriger geworden) und schneide den Kuchen an.
„Sollten wir nicht auf Cornelius warten?“
„Ich glaub, das können wir uns sparen. Frühestens würde ich um zehn mit ihm rechnen.“ Jetzt ist es halb neun, das kann also noch ein Weilchen dauern. Gestern Abend vorm Einschlafen hat Cornelius mir erzählt, dass er zur Entschärfung der Zeitzonenunterschiede im Moment lieber ein bisschen länger schläft. Schuldbewusst denke ich an meine lauten Gesänge. Das war nicht besonders fair.

Beim Frühstücken teilen wir uns die niederländischen Seiten der „Eilanden-Nieuws“, der größten Zeitung der Insel (mit dem friesischen Teil kann ich nichts anfangen, den liest Tante O alleine). Dann will sie wissen, wie es eigentlich dazu gekommen ist, dass ich im fortgeschrittenen Alter von mittlerweile 27 Jahren noch einen Bruder bekommen habe, der auch schon nicht mehr ganz taufrisch ist.
Ich erkläre es ihr und genieße derweil die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, die den Weg in die Küche gefunden haben. (39) Während ich mein Ei schlürfe, denn es geht nichts über ein Drei-Minuten-Ei an einem schönen Morgen auf einer mindestens ebenso schönen Insel, fragt Tante O: „Aber wieso wusste er, dass es dich gibt und du nicht? Da muss doch etwas schief gelaufen sein.“
„Ja, das denke ich auch“, sage ich. Es müsste mal Straußeneier zum Frühstück geben. Wo mehr Ei ist, gibt es auch mehr zu schlürfen. So ein halbflüssiges Straußenei stelle ich mir fast wie das Paradies vor. „Er hat es gewusst, Lucy hat es gewusst, und Gerrit hat es auch gewusst. Cornelius hat nämlich gesagt, dass er Fotos von mir hatte. Und die kann nur Gerrit geschickt haben, schließlich hatte nur er Lucys Adresse. Außerdem hat er Lucy in Kanada besucht, als ich noch ziemlich klein war. Ich weiß angeblich nichts davon, aber Mommi ist es mal rausgerutscht. Ich frage mich seit gestern, warum er mir nie was davon gesagt hat.“

66

Wir sind von Dersum aus auf geradem Wege quer durch Nieuwdersum bis an die Promenade von Dersum aan Zee gefahren, damit Cornelius schon mal einen Weg zum Strand kennt.
Der Sandstreifen ist so schmal, dass er auch im fahlen Licht des fast runden Vollmondes zu überblicken ist.
Ich habe den leisen Verdacht, dass ihm das warme Bier nicht gut bekommen ist. Er redet ziemlich viel, und davon ist das meiste Unsinn. Das passt nicht zu dem, was ich bisher von ihm gehört habe, da hat er sich nämlich noch große Mühe gegeben, seine coole Schweigsamkeit heraus hängen zu lassen.
Vorne an der Waterkant fragt Cornelius mich, ob man im Meer schwimmen kann.
„Na klar kann man“, antworte ich. „Kannst du schwimmen?“
„Na klar kann ich. Und du?“, herausfordernd hüpft er vor mir herum und wechselt schnell vom einen Bein aufs andere, wie ein Boxer, der den nächsten Schlag erwartet.
„Wenn nicht, wäre ich ja schön blöd, den Hafen zu verlassen.“
„Und, gehen wir ins Meer?“, er fängt schon an sich auszuziehen.
„Nein, jetzt kannst du nicht schwimmen gehen“, sage ich. „Es ist Ebbe, die kann einen weit aufs Meer raus ziehen.“ (38) Außerdem ist mir mein Bruder nicht geheuer. Ist er einfach albern oder hat er einen in der Krone? Oder sind es vielleicht Nebenwirkungen des Jetlags? Da halte ich ihn lieber an Land. „Das können wir morgen machen.“
„Gibt es nur nachts Ebbe?“, fragt er.
Da ich die Frage nicht verstehe, erklärt Cornelius mir: „Du hast gerade gesagt, dass jetzt Ebbe ist, und es ist Nacht, und morgen können wir schwimmen gehen, also nehme ich ja mal an, dass morgen keine Ebbe ist.“
Nun begreife ich erst, dass er von den Gezeiten gar keine Ahnung hat. Anscheinend bin ich davon ausgegangen, dass er soviel weiß wie ich, weil wir verwandt sind. Aber damit fängt der Denkfehler schon an, denn wir sind in völlig unterschiedlichen Lebensräumen aufgewachsen. Bis vor einigen Tagen hat er auf dem Festland gelebt, meilenweit von jeglichem schiffbaren Gewässer entfernt, und wie er mir während der Radfahrt erklärt hat, auch noch im Gebirge. Mein bisher am weitesten vom Meer entfernter Wohnort war Alkmaar. Von da aus sind es rund 12 Kilometer bis Egmond aan Zee. Ich frage mich zwar, wie man in Erdkunde an diesem Thema vorbei kommen kann, zugleich weiß ich, dass man bei für einen selbst unwichtigen Sachen gerne mal nicht so genau zuhört oder den Kram kurz darauf vergisst.
„He, hat’s dir die Sprache verschlagen, oder war die Frage zu schwierig?“, flachst Cornelius und boxt mir auf den Oberarm.
„So einfach, wie du es dir vorstellst, ist das wirklich nicht. Am besten kann ich das mit einer Zeichnung erklären. Aber morgen. Ich bin nämlich müde.“ Weit entfernt von jedem größeren Zusammenhang (wenn ich müde bin, brauche ich keine Zusammenhänge mehr) fällt mir ein, dass wir immerhin froh sein können, dass mein neuer Bruder Radfahren kann. Sonst stünden wir wirklich ziemlich dumm da. Ohne Fahrräder geht fast gar nichts auf der Insel.


einundzwanzigstes Kapitel

Irgend etwas hat Dersummeroog an sich, vielleicht liegt es an der guten Luft oder an den Geräuschen, jedenfalls wache ich dort immer viel früher auf als zuhause, und das ohne Wecker! In der Dusche fange ich bereits an zu pfeifen, wenig später singe ich, was die Lunge hergibt. Hurra, dies ist ein wunderschöner Tag, außerdem habe ich Geburtstag, ab heute bin ich siebenundzwanzig! Mein diesjähriges Geburtstagsständchen muss ich mir allerdings in Ermangelung anderer Sänger selbst halten, aber das bin ich selber schuld, ich hätte ja zuhause bleiben können. Da hätte Mommi mir was gesungen.

65

„Weil ich nicht zwei Jahre in den teuersten Sprachkurs der Stadt investiert habe, um mir dein lausiges Schulenglisch anzuhören, darum! Außerdem: Warum nennst du mich die ganze Zeit Cornelius? Ich hab dir gesagt, meine Freunde nennen mich Corn, Corny oder Nelly. Aber du kommst endlos mit dem ganzen langen Namen an. Find ich auch nicht besser.“
Das wäre zwar kein Thema gewesen, das ich in so großer Runde angesprochen hätte, aber da wir nun mittendrin sind, stehe ich Rede und Antwort. „Eben. Deine Freunde nennen dich Corn, Corny oder Nelly. Bin ich dein Freund? Bis jetzt noch nicht, nur der plötzlich gefundene Halbbruder, weiter nichts. Wir kennen uns noch nicht mal vierundzwanzig Stunden, was erwartest du eigentlich? Also nenne ich dich so, wie du dich mir vorgestellt hast.“
„Du bist echt ganz schön kompliziert mit deinem „Freund oder nicht“ und so“, brummelt er und sieht die Debatte als beendet an.
Marc ist noch nicht ganz fertig. „Hau halt wieder ab, wenn’s dir hier nicht passt.“
Ob er das ernst meint oder die Ironie nur gut verborgen hat, weiß ich nicht, aber es ist schon ein starkes Stück. Cornelius schaut nicht auf, aber mir scheint, dass er zusammengezuckt ist. „Bisschen netter, ja?“, fordere ich Marc auf. „Wir müssen nämlich beide noch üben, wie das ist, auf einmal einen fast gleichaltrigen Bruder zu haben. Du hattest deinen Bruder schon, als du auf die Welt gekommen bist.“
Anno und Boje nicken zustimmend.
Marc passt es offensichtlich nicht, dass ich ihn vor den anderen zurecht gewiesen habe. Er sagt, dass er noch was zu tun hat und verlässt die Kneipe grußlos.
Nachdem wir eine Weile schweigend dagesessen haben, sagt Anno entschuldigend: „Er hat schon wieder Zoff mit seinem Chef. Der hat gesagt, wenn er seinen fetten Arsch nicht schneller vom Fleck kriegt, holt er sich ‘nen Polen oder ‘nen Russen, die diskutieren weniger und arbeiten mehr. Wörtlich. Papa hat es mir erzählt, der war dabei, und noch zwei ziemlich geschniegelte Typen, vielleicht Kunden, was weiß ich. Festländer jedenfalls. Nicht besonders nett von einem Chef, seine Angestellten vor Kundschaft so zur Sau zu machen.“
„Es ist insgesamt nicht nett, einem Menschen solche Dinge zu sagen“, meldet Cornelius sich zu Wort. „Was arbeitet er denn?“
„Maurer. Wenn er sich eine neue Stelle suchen will, muss er dafür umziehen, es gibt hier auf der Insel nämlich nur diesen einen Baubetrieb“, erklärt er.
Mein neuer Bruder versteht es dennoch nicht. „Na ja, aber wenn er mit seinem Chef nicht zurecht kommt?“
„Das ist eine längere Geschichte. Es wäre wahrscheinlich nicht in seinem Sinne, wenn ich das weitertrage.“
„Erst recht an mich“, vermutet Cornelius.
„Das hat nichts mit dir zu tun“, beruhigt Anno ihn lächelnd und erhebt sich. „Ich hoffe, ihr seid nicht böse, wenn ich euch auch alleine lasse. Ich geh mal gucken, was er so treibt.“
„Richte ihm gute Besserung aus, oder was man da bei euch so sagt“, bittet mein lieber kleiner Bruder. Scheinbar ist er längst nicht so cool, wie er immer tut.
Kaum, dass wir nur noch zu dritt sind, sagt Boje, dass wir uns besser ohne Zuschauer kennen lernen sollen und verschwindet auch. Das ist nett von ihm. Ich mag Boje gern, auch wenn er die meiste Zeit schweigt.
„Weg ist er. Warte mal, es gibt ein Lied, das geht ungefähr so“, überlegt Cornelius, dann improvisiert er: „Drei kleine Jungens wollten Pommes essen, der dritte kriegt Kartoffelbrei, da war’n es nur noch zwei.“
Erfreut steige ich in die Disziplin ein und dichte weiter: „Zwei kleine Jungens saßen in ‘ner Kneipe, der eine will sein Bier nicht mehr und nimmt den andern mit ans Meer.“
„Und was macht die arme Kneipe so ganz ohne kleine Jungens?“, fragt er kichernd.
„Eine kleine Kneipe wartet sieben Tage bloß, dann ist wieder Freitag und es geht von vorne los. Normalerweise kommen auch ein paar Mädchen zu den Jungens. Keine Ahnung, wo die heute alle waren.“
Mein Bruder trinkt aus. „Und was ist mit dem Meer?“, fragt er erwartungsvoll.
„Nur die Ruhe, ein alter Mann ist kein Rennauto.“
„Du und alt, haha, ich lache.“ Wieder streichelt er mir über den Kopf, dann geht er zur Tür mit dem aufgemalten Kapitän, um sein warmes Bier loszuwerden.